La Traviata

Giuseppe Verdi
Immling

15. Juni 2015

Musikalische Leitung Cornelia von Kerssenbrock
Inszenierung Waltraud Lehner
Bühne Elisabeth Pedross
Kostüme Yvonne Forster
Violetta Valery Sonia Ciani
Alfredo Germont Fulvio Oberto
Giorgio Germont Adrian Marcan
Barone KyoungHo Ji
Dottor Grenvil Sergey Seldyakov
Marchese Ciprian Marele
Flora Bervoix Julian Stein
Gastone, Visconte Alik Ibrahimov
Annina Katharina Wittmann

Die vom Weg Abgekommene: "La Traviata"

Wer ist La Traviata? Wer ist Violetta Valery? Wer ist die Titelfigur aus Verdis 1853 in Venedig uraufgeführter Oper? Als Titel hatte Giuseppe Verdi ursprünglich Amore e morteLiebe und Tod - vorgesehen, aber nachdem nahezu alle Opern von Liebe und Tod handeln, entschied sich der Komponist für den Titel La Traviata.

Auf der Textvorlage der Kameliendame von Alexandre Dumas basierend steht bei Verdi weniger der voyeuristische Einblick in das zwielichtige Leben der Pariser Halbwelt im Vordergrund, sondern vielmehr der Blick auf eine von fadenscheinigen Moralvorstellungen verhinderte Liebesgeschichte zwischen Violetta Valery und Alfredo Germont. In seinem berühmten Brief aus der Zeit der Komposition schrieb Verdi am 1. Januar 1853:

"In Venedig mache ich die La Dame aux camélias, die als Titel vielleicht Traviata bekommt. Ein zeitgenössisches Sujet. Ein anderer hätte es vielleicht nicht gemacht wegen der Kostüme, der Zeiten und wegen tausend anderer alberner Skrupel. Ich mache es mit ganzem Vergnügen."

Nach langen Verhandlungen mit der Zensurbehörde, die Verdi zeit seines Lebens in nahezu allen Opern begleiteten, willigte er widerwillig in verschiedene Textänderungen und die Forderung ein, die Handlung in die Zeit des Ancien Régime zurückzudatieren, um die gesellschaftspolitische Brisanz zu entschärfen, verweigerte im Gegenzug aber hohe Allongeperücken als Inbegriff höfischer Verkommenheit. Die 38jährige, kräftige Sopranistin Fanny Salvini-Donatelli schien Verdi als Uraufführungstitelheldin von Anbeginn ungeeignet, eine an Schwindsucht zugrunde gehende, junge Frau von Anfang zwanzig zu verkörpern. Das folgende Debakel der Uraufführung kommentierte er lakonisch: "La Traviata gestern Abend, ein Fiasko. Ist es meine Schuld oder die der Sänger? Man wird sehen."

So debakulös die Uraufführung 1853 in Venedig war, so enthusiastisch feierte das venezianische Publikum ebendort die umgearbeitete, in der Ausstattung auf die Zeit Verdis aktualisierte Fassung ein Jahr später am 9. Mai 1854 mit der zerbrechlich-schönen Primadonna Maria Spezia als Titelfigur und La Traviata konnte ihren Siegeszug als eine der meistgespielten Opern des Repertoires antreten.

Wer ist La Traviata, wer war La Traviata? Als historisch verbürgtes Vorbild gilt die in ärmlichen Verhältnissen 1824 in Paris geborene Rosa Alponsine Plessis, die unter dem Namen Marie Duplessis zu einer bildschönen Edelprostituierten geworden war; sie kam in den höchsten Pariser Kreisen mit Grafen, Baronen und Außenministern Frankreichs ebenso in Berührung wie sie von Franz Liszt nicht nur Klavierunterricht bekam; sie starb 1847 an Tuberkulose und wurde ein Jahr später von Alexandre Dumas in seinem Roman von 1848 wieder zum Leben erweckt wurde: La Dame aux camélias - Die Kameliendame. Seine eigene Affäre in diesem Roman verarbeitend erschien Dumas' Text in leicht modifizierter Fassung 1852 auch als Theaterstück; beide Texte avancierten in kürzester Zeit zu Bestsellern in Paris.

Der Namenswechsel der Kameliendame von der historischen Luxusprostituierten über die Romanfigur und die durch die Darstellung Sarah Bernhardts berühmt gewordenen Bühnenfigur zur Primadonna der Oper, der Weg der Alphonsine über Marie und Marguerite hin zur Violetta zeichnet den Weg eines Lebenswandels nach. Als Margeritenblüte im Roman steht sie traditionell für Wankelmut und Unentschlossenheit - nicht umsonst spielen wir "sie liebt mich, sie liebt mich nicht" mit Margeritenblüten -  und verschiebt sich bei Verdi als Violettta, Veilchen, hin zu Demut und Bescheidenheit. Die Pariser Halbwelt wird im Roman und dem fünfaktigen Schauspiel von Dumas ausführlich zügellos geschildert. In der dreiaktigen Oper dient die demi-monde als Folie für das Kammerspiel um den verzweifelten Kampf Violettas für ihre Liebe zu Alfredo.

Die Abgrenzung von Dumas' handfester Milieuschilderung wird mit den ersten Tönen des Vorspiels spürbar: vor Beginn des ersten Akts wird durchsichtig und fragil das Motiv des Todes vorweggenommen und von Beginn an auf das tragisch-tödliche Ende verwiesen. Gefolgt wird die nur abwärts gewendete Melodie der Streicher in h-moll von dem zentralen Thema, dem Abschied Violettas von Alfredo aus dem zweiten Akt: "Amami, Alfredo" jenem berühmten, verzweifelten Versuch der Selbstvergewisserung der Liebe im Augenblick des Verlusts, das zum musikalischen Emblem der Oper wird.

Verdi erzählt in seiner musikalischen Rückblende des Preludios von der existenziellen Not einer jungen, todkranken Frau und ihrem verzweifelten Kampf um ein bisschen Liebe. Er lenkt wie in keiner seiner anderen Ouvertüren den Blick auf Innere seiner Protagonistin und ihrer emotionalen Verwundung. Damit zwingt er den Zuschauer die lärmenden Lustbarkeiten des Fests in Violettas Haus im ersten Akt von Anbeginn als trügerische Fassade wahrzunehmen, hinter der sich Unheil anbahnt.

Violetta stirbt an den Folgen der Tuberkulose, einer Lungenkrankheit. »Die Lungenwunde ist nur ein Sinnbild, Sinnbild einer Wunde«, notiert Franz Kafka anlässlich seiner Tuberkuloseerkrankung am 15. September 1917 in sein Tagebuch:

"Es ist das Alter der Wunde, mehr als ihre Tiefe und Wucherung, das ihre Schmerzhaftigkeit ausmacht. Immer im gleichen Wundkanal aufgerissen werden, die zahllos operierte Wunde wieder in Behandlungen genommen zu sehn, das ist das Arge." Als Ursache für die Entzündung macht Kafka die Liebe zu Felice Bauer, seiner Geliebten, verantwortlich und die Tiefe der Wunde begründet er mit der Rechtfertigung: "Ist dies so, dann sind auch die ärztlichen Ratschläge (Licht Luft Sonne Ruhe) Sinnbild. Fasse dieses Sinnbild an."

Violetta ist mit den ersten Tönen von La Traviata von der Krankheit gezeichnet. Als sie im dritten Akt im Sterben liegt, beschreibt sie sich selbst im Refrain ihrer Arie Addio dell passato bei sogni ridenti als Vom Weg Abgekommene, wenn sie von ihrem Leben Abschied nimmt:

 

Ah, della traviata sorridi al desio,                  Ach, lächle der Sehnsucht der vom Weg Abgekommenen,

al lei, deh, perdona, tu accoglila,                   Vergib ihr, ach, nimm sie zu dir,

o Dio, or tutto fini.                                       O Gott, jetzt ist alles zu Ende.

 

Doch wann kommt Violetta von ihrem Weg ab? Im ersten Akt, als ihr das Liebesgeständnis Alfredos unter die Haut gegangen ist und sie sich ihre Einsamkeit inmitten der Pariser Vergnügungswelt eingestehen muss:

 

povera donna,                                                            Arme Frau,

sola! abbandonata!                                                     allein, verlassen!

in questo popolo deserto,                                            in dieser Menschenwüste,

che appelano Parigi.                                                   die sie Paris nennen.

 

Ist sie zu Beginn der Oper bereits von ihrem Weg abgekommen, als sie, bereits von ihrer Tuberkulose-Erkrankung gezeichnet, Vergnügen und Ablenkung in der Pariser Partygesellschaften sucht, weil sie den Tod bereits in sich trägt:

Wenn sich diese Anfälle weiter verstärken, daran ist ja allein aus der Folgerichtigkeit der bisherigen Anfälle keinerlei Zweifel, werde ich nicht mehr viele Anfälle haben. Insofern ist mir die Zukunft doch klar und es hätte keinen Zweck, voreilig zu sein. Die von mir geführte Existenz, die naturgemäß ja schon lange Zeit nurmehr noch von meiner Krankheit geführt wird, ist in ihr Endstadium eingetreten.

Diese Zeilen schreibt ein anderes Opfer der Tuberkulose, Thomas Bernhard, der in seinen Texten Der Atem und Die Kälte die lebensbedrohliche Krankheit und seine Aufenthalte im Salzburger Krankenhaus, im Sanatorium in Großgmain und in der Lungenheilstätte Grafenhof verarbeitet.

Oder verlässt Violetta die gesellschaftlich vorgegebenen Bahnen, wenn sie im zweiten Akt unverheiratet und glücklich ihre Liebe zu Alfredo in der Idylle des Landhauses lebt und damit vermeintlich das Ansehen der Familie Germont gefährdet?

Wie groß eine Partnerschaft ohne Ehevertrag als Affront gegen die Moral zu Verdis Zeit bewertet wurde, zeigt die eigene Lebensform Giuseppe Verdis mit Giuseppina Strepponi. Der Komponist und seine Primadonna lebten zwölf Jahre auf dem Landgut Sant'Agata und legalisierten diese Beziehung erst 1859 in aller Stille. Auf die Einmischung des Schwiegervaters reagierte Verdi empört mit seinem berühmt gewordenen Brief von 1852:

"In meinem Haus wohnt eine Dame, frei, unabhängig und wie ich die Einsamkeit liebend, mit einem Vermögen, das alle ihre Bedürfnisse abdeckt. Weder ich noch sie müssen wem auch immer Rechenschaft über unser Tun ablegen."

Oder kommt Violetta vom Weg ab, wenn sie ihre Liebe zugunsten der Familienehre der Germonts verrät. Dieser Liebesverrat an eine fadenscheinige Moral wird gemeinhin als heldenhaftes weibliches Opfer bewertet. Aber markiert nicht genau dieses Aufgeben ihrer großen und letzten Liebe den Augenblick, in dem la traviata von ihrem Weg abkommt, den sie leise kommentiert: "era felice troppo" – "ich war zu glücklich".

BR Klassik , 16. Juni 2013 - Michael Atzinger
Premiere mit "La Traviata"

Opernfestival Gut Immling Premiere mit "La Traviata"

Die Geschichte der Edelprostituierten von Paris, die an Lungentuberkulose zugrunde geht, stand zur Eröffnung des Opernfestivals Gut Immling auf dem Spielplan; eine Neuinszenierung von "La Traviata" im Verdi-Jubiläums-Jahr.

Von: Michael Atzinger Stand: 16.06.2013

Manchmal kann große Oper so einfach sein: Vier riesige drehbare Wände vor schwarzem Hintergrund markieren - mit unterschiedlichen Bespannungen und immer wieder anders beleuchtet - die Schauplätze von Verdis "Traviata". Ausladende graue Sessel als einzige Requisiten auf der nicht tiefen, aber sehr breiten Bühne von Immling sind trautes Heim und Krankenbett. Im zweiten Akt, beim großen Fest im Pariser Salon der Flora Bervoix, werden sie zu einer Art Wagenburg zusammengeschoben, um Alfredo zu zeigen, dass man ihn hier nicht haben will.

Schmieriges Vater-Monster

Sonia Ciani (Violetta), Fulvio Oberto (Alfredo)

In fadem Einheitsgrau präsentiert sich auch die Pariser Schickeria und das sagt so viel mehr aus über die Leblosigkeit und Selbstbezogenheit dieser Welt als jedes Glitzerkostüm. Alfredo und Violetta auf der Suche nach ihrem kleinen privaten Glück passen da nicht rein. Fest verwurzelt in dieser Gesellschaft ist Vater Germont: der rumänische Bariton Adrian Marcan gibt ihn als schmieriges, berechnendes Vater-Monster. Dieser Alte lügt, wenn er den Mund aufmacht, hält Violetta einen Vortrag über Moral und versucht gleichzeitig, sich an sie heranzuwanzen. Marcan singt prächtig und völlig unsentimental, sein Rollenporträt lässt dem Kitsch, der in vielen "Traviata"-Inszenierungen diese Szene verklebt, keine Chance.

Dirigentin Cornelia von Kerssenbrock

Völlig kitschfrei auch das elegante und präzise Dirigat von Cornelia von Kerssenbrock: die Münchner Symphoniker geben den großen Chorszenen mit üppigem Klangteppich ein sicheres Fundament, überzeugen aber vor allem mit Mut zum zarten Gefühl, mit wehmütiger Verhaltenheit im Dienst des zentralen Liebespaars. Mit verzweifeltem Furor kämpfen Violetta und Alfredo um ihre Liebe: die zierliche Sonia Ciani und der sportlich-quirlige Fulvio Oberto. Beide zwar körperliche, jedoch keine vokalen Leichtgewichte: sie mit leidenschaftlich herausgestoßenen, aber sicher gesetzten  Koloraturen und ansatzlos in den Raum geschickten Pianissimi; er mit viel, manchmal zu viel emotionalem Überdruck und fulminanter Höhe. Furios und präsent der Immlinger Festivalchor, bewegungstechnisch geschickt geführt von der Regisseurin Waltraud Lehner, der (zusammen mit Elisabeth Pedross, Bühne, und Yvonne Forster, Kostüme) ein überzeugendes Kammerspiel ohne Mätzchen gelingt. Violetta muss in dieser Inszenierung nicht ein einziges Mal husten, sie muss sich nicht vor Krämpfen winden, sie muss sich im Schlussbild nur langsam die Perücke vom Kopf ziehen. Und dann steht sie da, kahlköpfig und barfuß, in ihrem ärmellosen Sommerkleidchen, mit einem hauchzarten Tuch um den Hals. Noch einmal bringt ihr Alfredo (wie schon zu Beginn) Pizza vom Italiener um die Ecke. Zu spät, Sie stirbt, aber nicht an Tuberkulose, sondern an der Gesellschaft, in der sie lebt.

Der Erfolgsweg der vom Weg Abgekommenen - La Traviata.

Wer ist La Traviata? Wer ist diese Violetta Valery? Wer ist die Titelfigur aus Giuseppe Verdis 1853 in Venedig uraufgeführter, so berühmter gleichnamiger Oper? Ursprünglich hatte der Komponist den Titel Amore e morte - Liebe und Tod - geplant, aber nachdem nahezu alle Opern von Liebe und Tod handeln, entschied er sich für den Titel La Traviata: Die vom Weg Abgekommene.

Auf der literarischen Grundlage von Alexandre Dumas' Milieuschilderung Die Kameliendame basierend lässt Verdis Oper von den ersten Tönen der Ouvertüre an keinen Zweifel daran, wie wenig es ihm um den voyeuristischen Blick auf das zwielichtige Leben einer Luxuskurtisane in der Pariser Halbwelt ging: durchsichtig und fragil wird das Motiv des Todes vorweggenommen und zugleich erklingt zaghaft die unbändige Sehnsucht nach Leben - und Liebe. In einem Kammerspiel setzt Verdi den verzweifelten Kampf für die vermutlich einzige, aber sicherlich letzte Liebe der Violetta zu Alfredo in Szene und Töne, und lässt einzig die Frage unbeantwortet: In welchem Augenblick kommt La Traviata von ihrem Weg ab oder wird von dem rechten Weg abgebracht?

Ist sie zum Beginn der Oper bereits davon abgekommen, wenn sie sich in der Pariser Menschenwüste allein und verlassen fühlt: "povera donna, sola! abbandonata! in questo popolo deserto, che appelanno Parigi".

Verlässt Violetta die gesellschaftlich vorgegebenen Bahnen im zweiten Akt, wenn sie unverheiratet ihre Liebe zu Alfredo in der Idylle des Landhauses lebt und damit vermeintlich das Ansehen der Familie Germont gefährdet?

Oder kommt Violetta vom Weg ab, wenn sie ihre Liebe zugunsten der Familienehre der Germonts verrät. Dieser Liebesverrat an eine fadenscheinige Moral wird gemeinhin als heldenhaftes weibliches Opfer bewertet. Aber markiert nicht genau dieses Aufgeben ihrer letzten Liebe den Augenblick, in dem La Traviata von ihrem Weg abkommt?

BR Klassik , 16. Juni 2013 - Michael Atzinger
Premiere mit "La Traviata"

Opernfestival Gut Immling Premiere mit "La Traviata"

Die Geschichte der Edelprostituierten von Paris, die an Lungentuberkulose zugrunde geht, stand zur Eröffnung des Opernfestivals Gut Immling auf dem Spielplan; eine Neuinszenierung von "La Traviata" im Verdi-Jubiläums-Jahr.

Von: Michael Atzinger Stand: 16.06.2013

Manchmal kann große Oper so einfach sein: Vier riesige drehbare Wände vor schwarzem Hintergrund markieren - mit unterschiedlichen Bespannungen und immer wieder anders beleuchtet - die Schauplätze von Verdis "Traviata". Ausladende graue Sessel als einzige Requisiten auf der nicht tiefen, aber sehr breiten Bühne von Immling sind trautes Heim und Krankenbett. Im zweiten Akt, beim großen Fest im Pariser Salon der Flora Bervoix, werden sie zu einer Art Wagenburg zusammengeschoben, um Alfredo zu zeigen, dass man ihn hier nicht haben will.

Schmieriges Vater-Monster

Sonia Ciani (Violetta), Fulvio Oberto (Alfredo)

In fadem Einheitsgrau präsentiert sich auch die Pariser Schickeria und das sagt so viel mehr aus über die Leblosigkeit und Selbstbezogenheit dieser Welt als jedes Glitzerkostüm. Alfredo und Violetta auf der Suche nach ihrem kleinen privaten Glück passen da nicht rein. Fest verwurzelt in dieser Gesellschaft ist Vater Germont: der rumänische Bariton Adrian Marcan gibt ihn als schmieriges, berechnendes Vater-Monster. Dieser Alte lügt, wenn er den Mund aufmacht, hält Violetta einen Vortrag über Moral und versucht gleichzeitig, sich an sie heranzuwanzen. Marcan singt prächtig und völlig unsentimental, sein Rollenporträt lässt dem Kitsch, der in vielen "Traviata"-Inszenierungen diese Szene verklebt, keine Chance.

Dirigentin Cornelia von Kerssenbrock

Völlig kitschfrei auch das elegante und präzise Dirigat von Cornelia von Kerssenbrock: die Münchner Symphoniker geben den großen Chorszenen mit üppigem Klangteppich ein sicheres Fundament, überzeugen aber vor allem mit Mut zum zarten Gefühl, mit wehmütiger Verhaltenheit im Dienst des zentralen Liebespaars. Mit verzweifeltem Furor kämpfen Violetta und Alfredo um ihre Liebe: die zierliche Sonia Ciani und der sportlich-quirlige Fulvio Oberto. Beide zwar körperliche, jedoch keine vokalen Leichtgewichte: sie mit leidenschaftlich herausgestoßenen, aber sicher gesetzten  Koloraturen und ansatzlos in den Raum geschickten Pianissimi; er mit viel, manchmal zu viel emotionalem Überdruck und fulminanter Höhe. Furios und präsent der Immlinger Festivalchor, bewegungstechnisch geschickt geführt von der Regisseurin Waltraud Lehner, der (zusammen mit Elisabeth Pedross, Bühne, und Yvonne Forster, Kostüme) ein überzeugendes Kammerspiel ohne Mätzchen gelingt. Violetta muss in dieser Inszenierung nicht ein einziges Mal husten, sie muss sich nicht vor Krämpfen winden, sie muss sich im Schlussbild nur langsam die Perücke vom Kopf ziehen. Und dann steht sie da, kahlköpfig und barfuß, in ihrem ärmellosen Sommerkleidchen, mit einem hauchzarten Tuch um den Hals. Noch einmal bringt ihr Alfredo (wie schon zu Beginn) Pizza vom Italiener um die Ecke. Zu spät, Sie stirbt, aber nicht an Tuberkulose, sondern an der Gesellschaft, in der sie lebt.