Don Giovanni

Wolfgang Amadeus Mozart
Wilhelma Theater Stuttgart

Premiere am 2. Juni 2012

Musikalische Leitung Bernhard Epstein
Inszenierung Waltraud Lehner
Bühne Benno Brösicke
Kostüme Katherina Kopp
Choreographie Verena Weiss
Don Giovanni DaeHyun Ahn/Daniel Raschinsky
Leporello JunHyog Jung/Patrick Zielke
Donna Anna Mi Yon Baek/Juliette Vargas
Donna Elvira Gunta Cese/Jennifer Owusu
Don Ottavio Junho Lee/Ewandro Stenzowski
Commendatore Yeun Ku Chu//Patrick Zielke
Zerlina Isabella Froncala/Maria Pizzuto
Masetto Jongwook Jeon/Johannes Mooser


Den Bösen sind sie los. Das Böse ist geblieben.

Über "Don Giovanni" ist alles gesagt. Seine Charakterisierung als Don Giovanni oder Don Juan in Texten und Kompositionen, in Filmen und der bildenden Kunst liest sich seit der Urfassung von Tirso de Molinas Komödie "El burlador de Sevilla y convidado de piedra"  aus dem 17. Jahrhundert weit über Spaniens Grenzen hinaus bis heute wie ein Telefonbuch.

Im Gegensatz zu Casanova, aus dessen Memoiren wir wissen, wie er als venezianischer Schriftsteller vom 1725 bis 1798 gelebt und dass er der Uraufführung der Oper von Da Ponte und Mozart am 29. Oktober 1787 in Prag beigewohnt hat, ist Don Giovanni, der Archetypus des Verführers, eine fiktive, eine mythologische Figur. Als solche ist er ebenso berühmt und sagenumwoben wie ein Odysseus oder Herkules, wie eine Elektra, Medea oder Kassandra. Mytho-logische Figuren zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht eindeutig fassbar sind, weil sie von größter Disparität sind und in sich unver-einbare Ordnungen verbinden: Vom virilen, charmanten und charis-matischen Verführer über den destruktiven, todessüchtigen Getriebenen bis hin zum wollüstigen, vergewaltigenden und mordenden Ungeheuer reicht die Bandbreite. Keine dieser Fassungen stimmt und alle stimmen; er ist dies alles und er ist es auch nicht, dieser Don Giovanni, dessen erste gesungenen Sätze wie eine Spielanweisung auf der Suche nach der Titelfigur klingen: "Donna folle! indarno gridi! chi son io tu non saprai." - "Verrücktes Weib, umsonst schreist Du! Wer ich bin, wirst Du nicht erfahren."

Uns wird es in der Inszenierung am Wilhelma Theater weniger um die Entscheidung gehen, für welche Fassung dieser Figur wir uns entscheiden und welche Ordnung wir am Ende siegen lassen, sondern um die Frage: Was macht den Don Giovanni zum Don Giovanni, genauer: Wer macht den Don Giovanni zum Don Giovanni? Wir begeben uns auf die Spurensuche nicht nur nach dem, was Don Giovanni ist, sondern vor allem nach dem, was wir aus ihm machen: Wenn Männer und Frauen auf der Bühne wie im Publikum gleicher- maßen zu Beginn von seiner grenzüberschreitenden Leidenschaft fasziniert sind, projizieren wir in den Don Giovanni nicht eine Sehnsucht, die wir in unserem eigenen Leben so oft nicht stillen können? Umso erleichterter sind wir, dass derselbe Don Giovanni, den wir eben noch für seine Grenzenlosigkeit bewundert haben, seinem rechtmäßigen Ende zugeführt wird und er in der Hölle schmoren muss, weil er zu weit gegangen ist und die gesellschaft- liche Ordnung gewaltig ins Wanken gebracht hat.

Das Chaos ist überwunden, die Ordnung nach der Bestrafung durch den Steinernen Gast wiederhergestellt - scheinbar: Donna Elvira kann ins Kloster gehen, Donna Anna schindet noch ein Jahr Zeit zur Hochzeit mit dem Tenor Don Ottavio, Masetto und Zerlina essen erst einmal Abendbrot und Leporello sucht sich einen neuen Job. Doch die Gewalt, die von der Titelfigur ausgegangen war, ist allen Figuren und der "Oper aller Opern" - wie der Schriftsteller und Komponist E.T.A. Hoffmann den "Don Giovanni" von Da Ponte und Mozart so nachhaltig bezeichnete - immanent. Sie ist in der Ouvertüre zu hören, sie setzt sich mit dem Übergriff an Donna Anna und dem Mord am ihrem Papa, dem Commendatore fort, geht über die Züchtigung Leporellos und Masettos bis hin zu den uns bis ins Mark erschütternden Schmerzensschreien der Zerlina im Finale I. Wie heiter das von Gewalt durchsäte dramma giocoso dabei bleibt, ist ebenso offen wie die Frage nach der Unversehrtheit der Figuren am Ende. Nicht ganz offen bleibt, dass Gewalt Spuren bei Menschen hinterlässt - bei denen, die sie ausüben, und denen, die sie erfahren.

Waltraud Lehner