Kritiken

zu «Kritiken zu "Don Giovanni"»

Eßlinger Zeitung , 5. Juni 2012 - Thomas Krazeisen
Ab in die Familienhölle

„Gut gebrüllt, Löwe!“ kommt einem nicht nur an den Raubtiergehegen der Wilhelma in den Sinn. Nicht nur im Zoo, auch im gleichnamigen Theater sind derzeit Raubtierfratzen zu besichtigen. Mit dem Unterschied, dass die zweibeinigen Maskenträger ihre Wohl- und Wehlaute sehr kultiviert zu artikulieren wissen. Die Reverenz an den genius loci ist dabei durchaus doppelgesichtig. Denn mit dem Protagonisten der jüngsten Wilhelma-Theater-Produktion schleicht ein notorischer Frauenjäger mit unstillbarem Jagdtrieb wie ein gehetztes Tier umher, der überall Weibergeruch zu spüren glaubt und dessen Beuteschema keine Beschränkungen zu kennen scheint. Mozarts Held und Unhold Don Giovanni, den sich die Stuttgarter Opernschule für ihre diesjährige Abschlusspräsentation im pittoresken Lehr- und Lerntheater der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst ausgewählt hat, ist eigentlich mehr Chiffre als konkret identifizierbares Individuum. Schillernder Inbegriff radikaler menschlicher Vitalität und Projektionsfläche süßer Sehnsucht wie animalischer Triebhaftigkeit inklusive sprungbereiter Selbstzerstörung.

ZWISCHEN EROS UND THANATOS
Ein ewiger Kreislauf zwischen Gut und Böse, Eros und Thanatos, der nicht zufällig Regisseure und Dramaturgen immer wieder die Drehbühne in Bewegung setzen lässt. Im Wilhelma-Theater tat das jetzt auch Waltraud Lehner, die neben anderen Stuttgarter Regiearbeiten in der Intendanz von Albrecht Puhlmann einen sehenswerten „Eugen Onegin“ im Opernhaus inszenierte. Benno Brösicke hat auf der rotierenden Spielfläche den Riss mitten durchs Humanum, der in der Titelfigur angelegt ist, in seiner fassadenhaften Außen-und-Innen-Bühnenarchitektur eingefangen. In der ersten Szene blickt man in ein in die Jahre gekommenes, hermetisch wirkendes Interieur, das einen frischen Anstrich gebrauchen könnte. Dreht sich die Bühne nach Don Giovannis Bluttat im Hause des Komturs und seiner Flucht weiter, gähnt den Betrachter von außen verputzte Tristesse vor ausgetrockneten Pflanzkästen an.

Ein weiteres bedeutungsvolles Bühnenelement ist eine Spiegelkommode. Das semitransparente Medium lässt nicht nur narzisstische Reflexe zu, sondern auch Projektionen der von Don Giovanni ebenso Gedemütigten wie Geblendeten. Irgendwie wollen sie doch alle sein wie dieser imitierte Star. Die Frauen fühlen sich sowieso zu ihm hingezogen, und selbst ein so biederer Anzugträger wie der erklärte Don-Giovanni-Rächer Don Ottavio schlüpft für einen Augenblick eingebildeter Größe ins glitzernde Starzwangsjäckchen.

Ästhetisch ist das, was Waltraud Lehner im Wilhelma-Theater zeigt, gewiss kein Streichelzoo - aber eine in sich schlüssige Lesart. Farbtupfer setzen im manisch-eintönigen Eroberungsalltag des selbstverliebten Wüstlings neben den Farbbändern bei der Gym-Parade der Landjugend in der Hochzeitsszene vor allem die Gewalt- und Vergewaltigungsszenen, bei denen das Theaterblut nicht zu knapp fließt.

Der Tod nimmt als letzte Konsequenz von Don Giovannis verletzungsträchtigem Egotrip hier einen ebenso prominenten Platz ein wie Yeun Ku Chus massiger Komtur, der lange Zeit nicht nur blutüberströmt im Wohnzimmer liegt, sondern später auch neben Lilien im Sterbezimmer aufgebahrt anwesend bleibt. Umso lebendiger kehrt er nach seinem „versteinerten“ Mahl hier noch einmal als putzmunterer Großvater zurück, der das Bad in der pausbäckigen Bälgerschar genießt. Ein Lieto fine bedeutet das freilich nur bedingt. Nebenan ritzt sich Gunta Cese als chronisch eifer- wie sehnsüchtig an Don Giovanni klebende Elvira an den Pulsadern herum, Don Ottavio (Ewandro Cruz Stenzowski) kann am Katzentisch der Vertrösteten neben dem Bauernpaar Zerlina (Maria Pizzuto) und Masetto (Jongwook Jeon) Platz nehmen. Dort dürfte er noch länger sitzen bleiben, denn wie es aussieht, könnte seine Verlobte Donna Anna (Juliette Vargas) ihre Unentschiedenheit überwunden haben und mit dem Segen des Vaters erst mal an Don Giovannis Seite bleiben. Daehyun Ahns cool-aggressiver Titelheld endet hier in einer Art spießbürgerlichen Hölle: in einem so beglückenden wie anstrengenden stinknormalen Familienleben.

Gesungen und gespielt wird das vom Stuttgarter Kammerorchester und Studenten der Musikhochschule in der Leitung von Bernhard Epstein temporeich präsentierte Kammerspiel von einem überzeugenden Ensemble, in dem Patrick Zielkes authentisch gezeichneter innerlich zerrissener Diener Leporello besondere Akzente zu setzen vermag.

Ludwigsburger Kreiszeitung , 5. Juni 2012 - Dietholf Zerweck
Fahrt in die Familienhölle

Mit einer sängerisch exzellenten und regiemäßig originellen Produktion hatdie Opernschule im Wilhelma-Theater Mozarts "Don Giovanni"auf die Bühne gebracht. Waltraud Lehner, bis letztes Jahr Oberspielleiterin an der Stuttgarter Staatsoper, verlegt den Schauplatz in eine südländisches Dorf mit einfachem Sozialmilieu. Wärehnd der Ouvertüre sitezn alle mit Fastfood und Bierdosen im engen Wohnzimmer, schon knistert es zwischen Giovanni und Anna erotisch auf dem Sofa. Als der Papa Komtur dazu kommt und die beiden beim Geschlechtsakt stört, erschlägt ihn der fesche Don mit einem Stuhlbein. Warum sie sich nun zweieinhalb STunden lang gegen die Avancen des sanften Don Ottavio wehrt und ihn auf später vertröstet, wird hier schon klar: Die Dame will ihren Giovanni wieder haben. Der vergnügt sich inzwischen bei der Hochzeit von Zerlina und Masetto im zweiten Drittel der Drehbühne, wird aber von seiner Verflossenen Elvira dabei gestört.(...)

Als Don Giovanni den Gesit des Komtur zur Mahlzeit einlädt, sorgt der dafür, dass seine Tochter endlich unter die Haube kommt. Don Giovannis Höllenfahrt ist die Fahrt in die Familienhölle: Fünf Gören tanzen schon um den Tisch, und der erotische Verführer ist zum braven Ehemann domestiziert.