Le nozze di Figaro

Wolfgang Amadeus Mozart
Reaktorhalle
Hochschule für Musik und Theater München

Premieren: 17. und 18. April 2015

Musikalische Leitung Andreas Ruppert
Regie Waltraud Lehner
Bühne Ulrich Frommhold
Kostüme Katherina Kopp
La Contessa di Almaviva Katharina Preuss, Soomin Yu
Il Conte di Almaviva Manuel Adt, Benedikt Eder
Susanna Nikola Hillebrand, Josephine Renelt
Figaro Carl Rumstadt, Shinyoung Yeo
Cherubino Luise Höcker, Susan Zarrabi
Marcellina Natalie Flessa, Idunnu Münch
Bartolo Martin Burgmair, Florian Drexel
Don Curzio/Basilio Michael Birgmeier, Eric Price
Barbarina Jana Daubner, Milena Bischoff
Antonio Matthias Bein, Frederic Jost
Fotos Adrienne Meister

DER TOLLE TAG oder "Le nozze di Figaro – o sia la folle giornata"

Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen, sagt Wittgenstein 1921. Derrida hingegen sagt im ausgehenden 20. Jahrhundert, wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schreiben. Gehen wir über zweihundert Jahre zurück, könnte man sagen: "Worüber man nicht sprechen darf, das wird gesungen." So lautet Kritik der Wiener Realzeitung anlässlich der Uraufführung von Mozarts "Le nozze di Figaro  sia la folle giornata"  am 1. Mai 1786 am Wiener Burgtheater.

Ist "Don Giovanni" aus dem Jahre 1787 ein reines Nacht­stück Mozarts, in dem wir in die Tiefen des dunklen Unbewussten eintauchen, entwickelt sich die "Zauberflöte" von 1791 bereits zum Tagstück, an dessen Ende die Entmachtung der Königin der Nacht und das neue Lichtpaar, Pamina und Tamino, als die neuen Herrscher stehen: Das revolutionäre Licht der Aufklä­rung gesiegt hat. "Le nozze di Figaro" bewegt sich dramaturgisch auf einer Gratwanderung dazwischen: nicht mehr ganz Nacht und noch nicht ganz Tag. Unter den Pinien eines großen Gartens erst findet im vierten Akt die Liebesjagd des wilden Tages nur durch eine Verdopp­lung von Unordnung und Täuschung zu geordneten Verhältnissen und Gefühlen zurück. "Man hat für einen Augenblick das Chaos und Delirium gestreift" schreibt Jean Starobinski und beschreibt "Den tollen Tag" als Tollheit in den Köpfen.

Die Dramaturgie von Mozarts opera buffa liegt dabei gänzlich auf dem, was im Text ungesagt bleibt, was ohne Worte da ist: Liebe, Sehn­sucht, Verlangen, Angst, Verlorenheit, Leere, Eifersucht, Ratlosigkeit, Heiterkeit, Melancholie, Begehren, Angst, Bosheit, Eitelkeit, Verzeihen, Reue und Schweigen. Die Musik wird zum Träger der Handlung und zum Gestalter des dramatischen Geschehens. Ungesagtes wird so hörbar gemacht. Damit schaffen Mozart und sein Librettist Lorenzo da Ponte nach der Text­vorlage "Der tolle Tag oder die Hochzeit Figaro" aus der Figaro-Trilogie von Beaumar­chais einen Mikrokosmos an Gefühlen von Men­schen, die im Laufe eines Tages aufeinander pral­len. Morgens, mittags, nachmittags und nachts: jeder Tageszeit, der dazugehörigen Atmo­sphäre und den Aggregatzu­ständen der Menschen ist ein Akt gewidmet. Wir dürfen die Figuren in ihrer Begrenzung und mög­lichen Grenzüberschreitung erleben, in der Intrige und Verstellung, im Licht und Dunkel ihrer Gefühle, für das es so schwer ist, Worte zu finden.

 

Stellvertretend für die Unmöglichkeit wahrhaftiger Gefühle, gar Liebe, zirkulieren Gegenstände als materielle Stellvertreter oder leitfähige Körper für Leidenschaften: Hut, Barett, Seidenband, Taschentuch, Nadel, Canzonetta, Degen, Patent, Siegel. Alle Gegenstände sind Zeichen ohne Deckung. Verfolgen wir den Weg des Seidenbands der Gräfin, sehen wir es im Wäschekorb der Susanna, wo es Cherubino findet und behält, weil es den Duft der Gräfin trägt; er verletzt sich, stillt er sein Blut damit; als die Gräfin dies bemerkt, versucht sie es wieder zurück zu tauschen, weil es das Blut des Jungen trägt – das Objekt der Begierde wird zum Substitut für das Ausleben der Gefühle. Roland Barthes schreibt in seinen "Fragmenten einer Sprache der Liebe" zum Bändchen: "Jedes vom Körper des geliebten Wesens berührte Objekt wird Bestandteil dieses Körpers, und das Sub­jekt klammert sich leidenschaftlich daran." Diese Substitute versuchen darüber hinweg zu täuschen, dass dem Menschen in seiner Liebe keinerlei sicheres Zeichensystem zur Ver­fügung steht, dessen er sich bedienen kann, um sich mit dem Anderen auszu­tauschen oder vorzutäuschen.

Die kleine in sich geschlossene Welt an sozialen Beziehungen hinsichtlich des Alters, Geschlechts und der Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Schicht werden wir in unserer Inszenierung - einer Versuchsanordnung gleich - unter die Lupe nehmen und die Figuren in Ihrer Annäherung und Zurückweisung auf der Suche nach Liebe begleiten. Die kammermusikalische Besetzung des Orchesters wird Teil des Bühnen- und Lebensraums des Grafen und seiner illustren Gesellschaft auf der Suche nach ein bisschen Liebe werden. Die Echtheit des Gefühls und die Täuschung sind das Thema, das uns in unserer Annäherung an die Opera buffa und an eine Gesellschaft in der Sattelzeit um 1789 beschäftigt, in der die gesellschaftlichen Gruppierungen einer klaren Trennung zu unterliegen scheinen. Doch Mozart und Da Ponte belehren uns eines Besseren: So  werden spätestens im vierten Akt in der Begegnung unter dem Deckmäntelchen von Nacht und Natur, aber eigentlich schon längst zuvor diese Grenzen aufgehoben. Über zweihundert Jahre später sind hat sich daran wenig geändert: die Menschen haben ihre Suche nach ein bisschen Liebe nicht aufgegeben – zum Glück.