Kritiken

zu «Idomeneo»

Süddeutsche Zeitung , 11. April 2008 - Thomas Thieringer
Flucht der Götter. Waltraud Lehner inszeniert Mozart "Idomeneo" in Stuttgart

Auffallend ist, wie genau Waltraud Lehner Bewegungen, Haltungen und Gänge aus dem "Geist der Musik" inszeniert. Das überzeugt selbst dann, wenn sich etwa die furiose Elettra gegen den Text zu verhalten scheint und wie eine Diva launisch, rachsüchtig aufspielt. Sie benimmt sich – Mozart macht das mit jeder Note klar – daneben, weil sie am Hof von Kreta die Fremde ist. Versprochen ist sie zwar dem künftigen König Idamante, aber dessen Liebe ist erloschen, obwohl er in dieser Inszenierung der Vater ihrer kleinen Tochter ist.
Unbedingt modern will diese Inszenierung sein: Die alte Geschichte erzählt hier von Leuten, die in Kriege verwickelt, durch entsetzliche Greuel traumatisiert sind. "Wann werden meine bittren Leiden jemals enden?" sind die ersten Worte der Oper, gesungen von der nach Kreta verschleppten Ilia. Und Idomeneo, den Meereswellen entkommen, singt, noch ehe er seinem Sohn begegnet, von der Qual, die sein Herz sterben lässt. Matthias Klink singt und spielt ergreifend, wie dieser Held von Alptraumschüben gebeutelt wird, sich windet unter Schmerzen. Das ist von Mozart erschreckend genau in Töne gesetzt bis hin zur Opferung des Sohnes, die nur durch ein Götterwort verhindert wird.
Dieser "Glückwendung" will das Stuttgarter Regieteam allerdings nicht folgen. Die Mausoleen aus Betonfertigteilen, die sich Idomeneo und Idamante zu Lebzeiten errichten ließen, werden zu Totengrüften: Idomeneo streckt alle mit einem Maschinengewehr nieder. Nur Elettra bleibt übrig – und Idomeneo; er hält sich eine Pistole an die Schläfe, drückt ab. Aber kein Schuss löst sich.
Nicht einmal diese Erlösung gönnt Waltraud Lehner dem Titelhelden, denn die Götter haben sich in ihrer Inszenierung aus der lebensfeindlichen Welt zurückgezogen: Ihr gläserner Schrein ist leer. Da hat auch die Liebe ausgespielt, der Mozart nach langem Ringen mit dem jungen Paar Idamante und Ilia noch eine Chance gab. Die musikalische Emotionalität und die szenische Schlüssigkeit, mit denen dieser "Idomeneo" in die finsterste Hoffnungslosigkeit steuert, beeindrucken das Publikum zutiefst. Heftiger Beifall.

Abendzeitung , 5. April 2008 - Volker Boser
Ohne Sonne wunderbar

Waltraud Lehner konnte gute Gründe ins Feld führen, warum nach zwei Stunden Düsternis nicht plötzlich die Sonne scheinen darf. Trotzig geht sie ihren eigenen Weg. Für die Münchner Regisseurin ist Idomeneo, der König von Kreta, ein von Krieg und Gewalt zerstörter Mann. Er findet keinen Weg zurück in die Welt, aus der einmal aufgebrochen ist. Dem Gott Neptun hat er ein Menschenopfer versprochen, wenn er einen Seesturm überlebt. Dass es sich dabei um seinen Sohn Idamante handelt, bringt ihn fast um. Kein Wunder, dass er wahnsinnig wird.
In Stuttgart hat sich Waltraud Lehner mutig an die Seite derer gestellt, denen die Gefühlswelten der handelnden Personen wichtiger sind als Zugeständnisse an opulentes Genusstheater.
Idomeneo (Matthias Klink) stand – anders als in vielen "Idomeneo"-Inszenierungen – unangefochten im Mittelpunkt. Auch dies ein Verdienst der Regisseurin. Sie wurde am Ende wie alle Mitwirkenden enthusiastisch gefeiert.

Stuttgarter Nachrichten , 5. April 2008 - Susanne Benda
Lehners Regie ist vor allem dort gut, wo ihr die Personenführung, die psychologische Zeichnung der Charaktere und ihrer komplexen Beziehungen wichtig sind. Die Zerrissenheit des Idomeneo, seine Schwierigkeit, nach den Grauen des erlebten Krieges seine Gefühle wieder einordnen und sei Verhalten entsprechend steuern zu können, die Sehnsucht des Idamante nach Liebe und Geborgenheit, die Zerrissenheit der Ilia, die sich als trojanische Sklavin in den feindlichen Prinzen verliebt, auch die Exaltiertheiten der Elettra, der man hier gleichsam als Verweis auf den Fortlauf der Geschichte ein Kind, ihre kleine Schwester Iphigenie, an die Seite stellt: All dies lässt uns Lehner sehen und spüren.
Münchner Merkur , 6. April 2008 - Markus Thiel

Lehner lässt, das ist ihre Stärke, mit wenigen Zeichen ein Beziehungsgeflecht anklingen.
So etwa der Marsch des ersten Teils, von Waltraud Lehner als Heimkehr der Soldaten inszeniert. Die allerdings schaffen das nur noch im Sarg. Idomeneo überreicht den entschlossenen, stolzen und verzagten Hinterbliebenen zusammengefaltete Flaggen, bis er die Perversion nicht mehr aushält und die Aufgabe an den Sohn delegiert. Das ist er: einer jener Opernmomente, der sich dem Publikum einbrennen dürfte.

Mannheimer Morgen , 9. April 2008 - Frank Armbruster
Trauma des kretischen Kriegsheimkehrers

Der Regisseurin Waltraud Lehner gelingen starke Bilder: wenn zum Festchor zu Ehren Neptuns zwischen dem ersten und dem zweiten Akt eine militärische Parade für die Kriegstoten abgehalten wird und der in Gardeuniform gekleidete Idomeneo die Orden an die Hinterbliebenen übergeben muss.

Klassikinfo , 3. April 2008 - Klaus Kalchschmid
Waltraud Lehner gelingt ein erschütternd aktueller Theater-Coup: Der Kreter-König Idomeneo ist selbst nach einem Seesturm lebend dem Meer entstiegen und bringt in Holzkisten die Leichen seiner toten Kameraden mit. Peinlich genau werden die Flaggen, die auf den Särgen liegen, gefaltet und samt Orden den Witwen übergeben. Individuelle Trauer und Verstörung ob dieses offiziellen Gedenkens droht die Feier zu sprengen und Manfred Honeck fährt mit seinem großartigen Stuttgart Staatsorchester dazwischen. Öffentliches und Privates verschränkt sich und der Zuschauer erfährt wie in einem Brennspiegel das Dilemma eines Königs, der gelobt hat, als Dank für seine Rettung den ersten Menschen, den er am Strand trifft, zu opfern. Seinen eigenen Sohn.
Opernwelt , Mai 2008 - Uwe Schweikert
Waltraud Lehners Stuttgarter Inszenierung geht keiner naiven Lehre von der Gewaltlosigkeit auf den Leim.
Lehner hat hinter das obligatorische Happy End der Seria ein großes Fragezeichen gesetzt, ja sie lässt sogar offen, ob das Ganze nicht im Blutbad endet, wenn Idomeneo im Augenblick des Opferspruchs zum Maschinengewehr greift und alle niedermäht. Noch bevor der Jubelchor einsetzt, fällt der Vorhang. Übrig bleiben die beiden Verlierer: Elektra, deren Hoffnungen zunichte sind, hockt verloren auf ihren Koffern, und Idomeneo setzt die Pistole an die Schläfe, aber keine Kugel erlöst ihn.
Lehner will zeigen, wie der Krieg mit physischer und psychischer Gewalt die Menschen zerstört.

Reutlinger Generalanzeiger , 5. April 2008 - Monique Cantr
Der Krieg frisst die Seele auf

Der Sieger als gebrochener und zutiefst verstörter Mann – so schildert Waltraud Lehners Neuinszenierung den kretischen König Idomeneo bei seiner Rückkehr aus dem Trojanischen Krieg.
So beeindruckend, ja beklemmend ist diese Lesart der Oper als brandaktuelle Diskussion darüber, wie der Krieg die Menschen deformiert.
Waltraud Lehners Inszenierung ist mit ihrer klugen, tief lotenden psychologischen Personenführung, die auch die Rivalität zwischen den Frauen Ilia und Elettra, deren Ambivalenz sowie die Vater-Sohn Beziehung erhellt, absolut schlüssig.
Und sie ist spannend von der ersten bis zur letzten Note. Mozart verknüpfte in dieser als eine seine reichste Komposition gerühmten Oper den vokalen Glanz der italienischen Opera seria mit der dramatischen Energie der französischen Trag?die lyrique. Geschickt gekürzt auf etwas zweieinhalb Stunden reine Spielzeit, war von der Kompliziertheit dieser Mixtur nichts mehr zu spüren und bot dem am Ende enthusiastisch applaudierenden Publikum ein Musikdrama ersten Ranges.