Kritiken

zu «Eugen Onegin»

SWR 2 , 06.01.2010 - Susanne Kaufmann
Eine brillante Wiederaufnahme von Tschaikowskis "Eugen Onegin" an der Stuttgarter Staatsoper

Es stimmt einfach alles bei dieser Wiederaufnahme!
Die neu besetzten Rollen waren durchweg gut besetzt - fast ausnahmslos mit Mitgliedern des Ensembles. Und die Regisseurin Waltraud Lehner? Sie fordert die Sänger in ihrer schlüssigen Inszenierung als Schauspieler heraus. Die Handlung hat sie ins postsozialistische Russland versetzt, wo es Gewinner und auch Verlierer gibt. Überzeugend bis ins Detail die Kostüme von Werner Pick. Eine rundum gelungene Inszenierung, bis hin zum Bühnenbild, dazu die Handlung um Liebe und verschmähte Liebe und eheliche Treue gepaart mit der Musik Tschaikowskis. Überzeugender könnte ein Opernabend nicht sein.

Stuttgarter Zeitung , 07.01.2010 - Frank Armbruster
Postsozialistisches Seelendrama, skidurchwedelt - Wiederaufnahme: Waltraud Lehners Inszenierung von "Eugen Onegin" überzeugt in der Staatsoper Stuttgart

Draußen am Eckensee liegt noch etwas Schnee, während sich drinnen im Opernhaus die Akteure im dritten Akt von Tschaikowsky Oper "Eugen Onegin" auf einer Skistation versammelt haben, dazu wedeln weiß gekleidete Skihasen auf einem Videofilm die Piste runter. Das passt jahreszeitlich prima, wie überhaupt das meiste gut zusammengeht in Waltraud Lehners Inszenierung, die nun mit teilweise geänderter Besetzung wieder auf dem Spielplan der Staatsoper steht. Lehners Regieansatz, die Geschichte um das vergeblich liebende Provinzmädel Tatjana und ihren angehimmelten Großstädter Onegin in das postsozialistische Russland der neunziger Jahre zu verlegen, ist ja nicht unproblematisch, weil solch psychologisch ausdifferenzierte Gefühlsdramen eigentlich nur in großbürgerlich abgesicherten Verhältnissen gedeihen konnten, wie es sie im zaristischen Russland des 19. Jahrhunderts noch gab. Im aktuellen Rohkapitalismus russischer Prägung, in dem es nur wenige Gewinner und viele Verlierer gibt, hat sich dagegen das Marktprinzip längst auch im zwischen menschlichen Bereich durchgesetzt: Schönheit gegen Reichtum - so lautet heute der Deal. Lehners Inszenierung besticht nach wie vor durch ihren dramaturgisch schlüssigen Aufbau und ihre präzise Personenführung. 

Stuttgarter Nachrichten , 08.12.2008 - Verena Grosskreutz
Aus der Eiszeit der Gefühle

Waltraud Lehners Inszenierung des "Eugen Onegin", die wegen des Orchesterstreiks an der Staatsoper am vergangenen Sonntag nur vom Klavier begleitet zur Premiere kam, braucht das Orchester als Erdung ihrer fein ausgearbeiteten Personenführung, die auf der Grammatik der Körpersprache aufbaut: auf Haltungen, Handzeichen, Entfernungen, Blickrichtungen, vor allem auf den starken Kontrast zwischen Bewegung und Erstarrung.

Denn starke Gefühle, die die Protagonisten wie zugeklappte Rasiermesser durch die Welt laufen lassen, bleiben in der dargestellten postkommunistischen materiellen Gesellschaftshölle unerwidert und wirklich letztlich selbstzerstörerisch. Konsequent lässt Lehner den in seiner unglücklichen Liebe zu Olga (Tajana Raj) völlig vereinsamten Lenski (Roman Shulackoff) dann auch nicht im Duell durch Onegin sterben, sondern im russischen Roulette von eigener Hand - ein starker, glaubwürdiger Abgang. "Gefühle verboten", scheint die Masse stumm zu schreiben. Und steht an Sektgläsern nippend starr und gaffend dabei. In dieser Welt ist Empathie ein Anachronismus.

Wie aus einem Eisblock gehauen wirkt das Bühnenbild, in dem Körperstarre zum Sinnbild korsettierter Gefühle wird. In Lenskis verzweifelter Soloszene vor dem Suizid steht Olga im Hintergrund, mit unbeweglicher Miene. In gleicher Haltung wird am Ende Tatjana (Karine Babajanyan) dem völlig gewandelten, aufgetauten Onegin (Shigeo Ishino) begegnen. Denn es ist zu spät. Für die Gefühle gibt es keine Sprache, und ohne diese entsteht keine Kommunikation.

Stuttgarter Nachrichten , 02.12.2008 - Susanne Benda
"Eugen Onegin" – Premiere ohne Orchester – Lehner inszenierte Berg- und Tal-Fahrt in die russische Seele.

Am Sonntagabend saß das Stuttgarter Staatsorchester nicht im Orchestergraben. Stattdessen standen Musiker mit Bannern vor dem Opernhaus. "Die heutige Vorstellung fällt leider aus!", verkündeten sie auf Handzetteln. So weit kam es am Ende nicht. Doch das Orchester bestreikte die Kunst.

Unfreiwillig passte der Auftritt der Musiker zu der Inszenierung, die Stuttgarts szenische Produktionsleiterin Waltraud Lehner für Pjotr Iljitsch Tschaikowskis Oper "Eugen Onegin" erdacht hatte: Auf der Bühne bekam man am Beispiel eines ehedem sozialistischen Staates die Folgen und Wertekonfusionen des Spätkapitalismus vorgeführt.

Dass es trotz des unangekündigten Ausstands doch noch zu einer Premiere kam, war vor allem dem Korrepetitor Thilo Lange zu danken. So rettete einer der am schlechtesten bezahlten Musiker am Haus die Premiere, die sonst dem Streik des bestbezahlten Kollektivs zum Opfer gefallen wäre - dafür erhielt er, als er sich am Ende sichtbar erschöpft vor dem Publikum verneigte, den lautesten Applaus von allen Beteiligten.

Bühnenbildner Kazuko Watanabe ließ einen sterilen weißen Kasten mit einer Plakatwand bauen, auf der erst ein Plattenbau, dann eine Villa mit Pool und schließlich auf den schneebedeckten Bergen des dritten Aktes nur noch reines Weiß zu sehen sind; Werner Picks Kostüme kleideten den Weg einer postsozialistischen Gesellschaft hin zu Konsum und Luxus stimmig ein.

Bleibt Waltraud Lehners Regie. Angestiftet von den Klavierklängen, die zu einem weniger klang- denn strukturorientierten Hören verleiteten, mochte sich mancher einen betont analytischen Zugriff auch der Inszenierung auf "Eugen Onegin" gewünscht haben. Den gab es nicht. Stattdessen lebt diese durchdachte Inszenierung von kleinen, schlüssigen Bildern und Bewegungen, von einer detailliert ausgearbeiteten Personenführung, in der immer wieder und immer mit gutem Grund Personen zu früh auftauchen und zu spät wieder gehen. Ein feines Netzwerk der Beziehungen war selbst im ungewollten Zustand der klanglichen Nacktheit zu sehen.

Frankfurter Rundschau , 02.12.2008 - Georg Rudiger

Das Gewicht des großen Operntons

Wenn der Pianist nach einer Opernpremiere den größten Beifall erhält, muss etwas Besonderes vorgefallen sein. Eine Stunde vor Premierenbeginn hatte Korrepetitor Thilo Lange erfahren, dass er wegen des Orchesterstreiks den "Eugen Onegin" an der Stuttgarter Staatsoper am Klavier begleiten müsse. Er besteht seine Feuerprobe mit Bravour, hämmert die großen Orchestercrescendi mit solcher Energie in die Tasten, als spielte er um sein Leben. Lange Zeit fehlt nichts bei diesem "Eugen Onegin". Regisseurin Waltraud Lehner verlegt die Geschichte vom frühen 19. ins späte 20. Jahrhundert.

Larina kocht keine Marmelade ein wie im Libretto, sondern rollt Architekturpläne aus. Die große Plakatwand im Hintergrund (Bühne: Kazuko Watanabe) zeigt eine braune Mietskaserne. Die Dorfbewohner bringen keine Erntegaben, sondern sind ungehalten darüber, dass Larina sie aus ihrer Wohnung wirft und dafür mit ein paar Geldscheinen abspeist. Der Kapitalismus hält Einzug in dieses spätkommunistische Ambiente. Der Wohnblock wird, Papierbogen für Papierbogen, überklebt mit einer Villenanlage, die Frauen brezeln sich auf (Kostüme: Werner Pick). Nur Überbleibsel wie der verknitterte Triquet (berührend: Heinz Göhrig) zeugen noch von der alten Zeit.

Trotz der knalligen Bilder gelingt es Waltraud Lehner in den ersten beiden Akten, sich den komplexen Gefühlswelten der Protagonisten anzunähern. Das Drama wird dicht erzählt, die Personenführung ist schlüssig. Bei der Briefszene schreibt Tatjana ihre Liebeserklärungen auf die am Bauzaun montierten Werbetafeln. In ihrer plötzlichen Leidenschaft legt die schüchterne Tochter alle Hemmungen hab. Halbnackt steht sie träumend auf der Bühne, ehe ihre Ekstase in Scham umschlägt.

Klassikinfo , 02.12.2008 - Klaus Kalchschmid

Weil das Orchester streikte, gab man in Stuttgart die Premiere von Tschaikowskys "Eugen Onegin" nur mit Klavierbegleitung

Mehr noch als bei jeder anderen "Onegin"-Aufführung gab es Szenenapplaus nach jeder Arie, jedem Duett, jeder abgeschlossenen Szene - und das führte zu einem selten intensiven Band zwischen Publikum und Ausführenden. Die Sänger bedankten sich am Ende heftig klatschend für das Entgegenkommen, und auch der Pianist des Abends, Thilo Lange, der die Produktion als Korrepetitor begleitet hatte, erntete für seine Leistung ungeheueren Applaus.

Leider kann man nicht sagen: Ende gut, alles gut! Denn Waltraud Lehners Konzept, das eine russische Nachwende-Gesellschaft im Umbruch zeigt, mit Bauzäunen vor einer abstrakten Eis-Landschaft zu Beginn (Bühne: Kazuko Watanabe), in der auf einer großen Reklametafel eine Plattenbausiedlung zu sehen ist, deren Bewohner entmietet werden; die schließlich in eine tropische Feriensiedlung mit Swimmingpool überführt, bzw. überklebt wird, bevor Fürst und Fürstin Gremina - alias Tatjana - mit ihrem Hofstaat am Ende in einem Luxus-Skiressort im Schneesturm vereisen (grandios vielfältig die Kostüme von Werner Pick) - dieses mutige, kluge, auf das Wesentliche reduzierte, die Musik nie verdoppelnde Konzept hätte der Reibungsfläche, des Gegenpols in Form eines ebenso leidenschaftlichen wie intimen Tschaikowsky-Orchesters bedurft.

Die Sänger stürzten sich todesmutig, ohne Netz und doppelten Boden in das Abenteuer, mühten sich nach Kräften und gaben ihr Letztes.

Großartig die Idee der Regisseurin, das nun folgende "Duell" als eine Art "Russisches Roulette" ablaufen zu lassen - mit nur einer Pistole und einer einzigen Kugel, die Lenski in der Trommel belassen hatte. Der setzt sie sich an die Schläfe - klick - dann Onegin - klick - und wieder Lenski - der nicht aufhört abzudrücken, bis es ihn erwischt und er auf der schiefen Ebene mit einem irren Stunt nach hinten in den Abgrund kippt. Genau an dieser Stelle wird nach der Pause Onegin (zunehmend freier singend und spielend: Shigeo Ishino) kauern, in wattierter Jacke, irgendwo im Hochgebirge frierend, und noch einmal den schlimmsten Augenblick seines Lebens erlebend, bevor er wie in einem Alptraum die Polonaise in seinem Kopf hallen hört, ohne dass irgendjemand sich dazu bewegt.

Einmal nur wird bei Waltraud Lehner getanzt - und das geschieht, wenn der Outcast Triquet, ein alter Franzose, als ungebetener Gast auf der Einweihungsfeier der neuen Ferienanlage Tatjana (eher kühl, aber stimmlich souverän: Karine Babajanyan) ein schräges Geburtstagsständchen singt und sich mit ihr ausgelassen im Kreis dreht, als wären sie beide Kinder. Es ist der schönste und zugleich der gefährdetste Moment dieses Abends, der wie in einem Brennspiegel Glück und Unglück zusammenband.

Stuttgarter Zeitung , 08.12.2008 - Werner Müller-Grimmel
Russisches Roulette vor Plattenbau-Tristesse.

Peter Tschaikowskys "Eugen Onegin" an der Staatsoper Stuttgart - diesmal mit Orchesterbegleitung.

Waltraud Lehner, die den "Eugen Onegin" an der Staatsoper Stuttgart inszeniert hat, lässt das Stück auf leerer Fläche vor einer riesigen Plakatwand spielen. Überdimensionale Werbeposter zeigen zunächst postzozialistische Plattenbau-Tristesse mit Wohnsilos, Brachland und verwahrlostem Kinderspielplatz. An metallenen Bauzäunen im Vordergrund hängen russisch beschriftete Firmentafeln. Statt Puschkins Bauern erscheinen zu Beginn von Entmietung bedrohte Proletarier auf der von Kazuko Watanabe bestalteten Bühne. Ihre Billigklamotten (Kostüme: Werner Pick) weisen sie als Verlierer eines rasanten gesellschaftlichen Wandels aus, der anderen quasi über Nacht ein Leben im Luxus beschert. Mit Wohngutscheinen werden protestierende Mieter abgewimmelt, deren Altbau einem Villenensemble mit Swimmingpool und Kunstpalmen weichen soll. Während im Hintergrund ein Zwangsräumungskommando schon das Mobiliar des Prekariats in Müllcontainern entsorft, wird die Plakatwand mit Reklame für die schöne neue Welt der sozialen Aufsteiger überklebt.

In diesem Ambiente setzt Tatjana alles auf eine Karte. Großartig spielt Karine Babajanyan diese zum Graffitirausch umgestaltete Briefszene. Onegin (Shigeo Ishino) ist in dieser Inszenierung kein Großstadt-Dandy, sondern ein zugeknöpfter Intellektueller. Die ungewohnte Sicht auf seine Rolle ist durchaus schlüssig. Im Grunde hat dieser Onegin recht. Seine Abfuhr für Tatjana ist sogar gut gemeint. Nicht überheblich, sondern verantwortungsvoll und mitfühlend möchter er sie vor ihrer momentanen Naivität warnen. Und lange scheint er darüber nachzusinnen, wie er ihr das beibringen soll, bevor er ihr fast zärtlich den Mantel umhängt, um die Wirkung seiner Worte abzumildern.

Spannend entwickelt Lehner die Duellszene als russisches Roulett mit nur einem Revolver. Nach ergreifend gesungenem Abschied vom Leben und drei vergeblichen Versuchen der beiden Exfreunde drückt Lenski (Roman Shulackoff) hier schließlich so oft an seiner Schläfe ab, bis ihn die ersehnte Kugel tötet. Olga (Tajana Raj) verfolgt das verhängnisvolle Geschehen fast desinteressiert und liefert so die Folie für Lenskis nachvollziehbaren Entschluss.

Der dritte Akt spielt in einem Wintersportparadies. Onegin, in realer wie sozialer Kälte frierend muss sich nun als gescheiterte Existenz von Tatjana belehren lassen. Am Ende sitzen die beiden auf der Bank und können doch nicht zueinander kommen. Der Revolver liegt in Griffweite. Bevor wir aber erfahren, was weiter passiert, fällt der Vorhang.

Stimme , 02.12.2008 - Martin Roeber

Diese Premiere wird in die Geschichte der Staatsoper Stuttgart eingehen: eine Inszenierung, die Tschaikowskis Eugen Onegin eine aktuelle politische Dimension abzugewinnen versucht, während vor dem Opernhaus reale Politik gemacht wird.

Aus dem russischen Landgut wird ein sozialistischer Plattenbau, der von den neuen Oligarchen zu Luxusappartements am Swimmingpool umgebaut wird. Die Schlussszene spielt in einem imaginären westlichen Wintersportort à la St. Moritz, in dem sich neureiche Russen tummeln. Eine auf den Punkt zielende, durchdachte Personenführung muss man Regisseurin Waltraud Lehner ohnehin bescheinigen.

Liebesschwüre zwischen Frust und Frost , 02.12.2008 - Thomas Krazeisen
Déjà-vu beim Après-Ski: Waltraud Lehner inszeniert Tschaikowskis „Eugen Onegin“ an der Stuttgarter Staatsoper

Stuttgart - Manchmal liefert die Opernkulisse unwillentlich eine passende Bebilderung unschöner Theatertatsachen. So wie an diesem Premierenabend, der streikbedingt ohne Orchester stattfand. Graben und Bühne des Stuttgarter Opernhauses trennt bei der Neuinszenierung von Tschaikowskis „Eugen Onegin“ ein garstiges Zaungerüst, das Bühnenbild - man blickt in eine Art „Whitebox“ aus Schnee und Eis - suggeriert eisiges Schweigen. Frostig ist auch die Atmosphäre im aktuellen Tarifkonflikt, nachdem Mitte Oktober die Gehaltsverhandlungen für die deutschen Opern- und Konzertorchester gescheitert waren. Ein Großteil des Stuttgarter Premierenpublikums harrte indessen aus und feierte am Ende die Sänger und wie einen Helden den Korrepetitor Thilo Lange, der die Aufführung am Klavier rettete, sowie den Dirigenten Marc Soustrot.

Das Glück war so möglich

Ein kleines Happy End also, das Tschaikowski und das auf Puschkin zurückgehende Libretto den Antihelden um den Lebemann Eugen Onegin nicht gönnen. Da sitzen auf der Stuttgarter Bühne Tatjana und ihr einstiges Herzblatt auf einer zugeschneiten Parkbank, jeder starrt für sich Löcher in die kalte Luft, wo sich doch beide nichts so sehr wünschen, wie sich für den Rest des Lebens an der Schulter des Geliebten anlehnen zu können. „Das Glück war so möglich, so nah zum Fassen“, klagt Tatjana sehrend. Doch die beiden können’s einfach nicht ergreifen, denn sie wissen: „Ver­gangenes bringt man nicht zurück“. Im Eissturm gemeinsam zu erfrieren, wäre wohl ein besseres Los als jenes, welches der kühle Realismus Tschaikowskis den unglücklich Liebenden zugedacht hat: zurückzukehren in die kalte Hölle des ewigen Weiter-so.

Regisseurin Waltraud Lehner, die szenische Produktionsleiterin der Staatsoper, verfrachtet Tschaikowskis Trauerspiel über die Ungleichzeitigkeit großer Gefühle aus der zaristischen Provinz in die postsowjetische Umbruchphase. Im Schatten der milliardenschweren Oligarchen, der Ölbarone, Gaskönige und Medienmogule der Metropole profitieren auch die kleineren Raubritter auf dem flachen Land von der kapitalistischen Restaura­tion. Die Familie der Generalswitwe Larina ist im Begriff, in größerem Stil in den Immobilienmarkt einzusteigen. Kazuko Watanabes Bühnenbild zeigt den gesellschaftlichen Umbruch als Abbruchunternehmen: Auf einer riesigen Fotowand ist eine Mietskaserne zu sehen, auf der Bühne werden die letzten Spielplatzgerätschaften in eine Mülltonne entsorgt.

Olgas Verlobter Lenski, im Original ein kunstsinniger Gutsverwalter, agiert hier sein kreatives Potenzial als Projektmanager aus. Höchstpersönlich schiebt er an der Spitze der Neureichenclique das Baugerüst herein, auf dem zwei Arbeiter in aller Seelenruhe die zentrale Projektionsfläche mit Schöner-Wohnen-Träumen zukleistern. Auch die postsozialistischen Visionen und Lebensentwürfe sind nichts als potemkinsche Fassadenherrlichkeit - „ein Trugbild der unerfahrnen Seele“, wie es bei Tschaikowski heißt. Zusammen mit seiner Schwiegermama in spe verteilt Lenski Briefe an die Bauernschar, die hier beim wohl letzten Ernteständchen als Mieterkollektiv gegen die freche Abfindung eher halbherzig opponiert (Chor: Johannes Knecht).

Graffiti-Bekenntnisse

Lehner verzichtet bei ihrem marktradikalen Umbau des „Eugen Onegin“ durchgängig auf die prollige Abrissbirne und aktualisiert die Schlüsselszenen ohne unnötigen Klischeekrawall: Die taffe Tatjana hat mit romantischer Literatur nicht mehr allzuviel im Sinn. In der Briefszene greift sie erst gar nicht zur Feder, sondern gleich zur Sprayflasche und nötigt noch die arme Amme, bei ihren Graffiti-Verunzierungen mit Hand anzulegen. Das Duell zwischen Onegin und Lenski wird als russisches Revolverroulette mit der letzten Kugel ausgespielt, die sich Lenski selbst in den Kopf jagt. Und beim D?jà-vu der verpassten Gefühle trifft man sich Jahre später auf einer Après-Party in einem mondänen Wintersport-Ort, wo Onegin eine Retraumatisierung erleidet und Rettung in Hochprozentigem sucht.

Wenn es einem beim Betrachten dieser Inszenierung dennoch weder richtig warm noch bitterkalt ums Herz werden will, dann liegt dies in erster Linie an einer Personenführung, die sich eher an einer quasi choreografischen Abstraktheit berauscht, als dass sie psychologisch triftig die Vorgaben des Librettos umsetzt. So werden fein ziselierte Tableaus von anmutiger geometrischer Strenge entworfen, ohne dass die Eisesglut dieser Sehnsuchtsfiebrigen in den allzu wohltemperierten Distanz-und-Nähe-Balletten wirklich einmal bedrohlich aufflackern würde. Warum Onegin hier nicht als veritabler Dandy auftreten darf, sondern wie ein verklemmter Hochbegabter herumstakst, leuchtet ebensowenig ein wie seine Freundschaft zum Immobilienhai Lenski, dem alle schöngeistige Schwärmerei ausgetrieben wurde.

Die Poesie rettet mit dem unbestechlichen Franzosen Triquet ausgerechnet eine Randfigur, die sich hier als brutum factum verlorengegangener Empathie und Lebendigkeit ins Zentrum der Inszenierung spielt. Heinz Göhrig ist als alter Tramp mit Herz schauspielerisch eine Klasse für sich und verströmt bei seinem Couplet an Tatjanas Namenstag inmitten der coolen Rich-and-Beautiful-Sterilität tenorale Wärme. So viel Feingefühl hätte man sich für das Bekenntnis des betagten Fürsten Gremin zur alterslosen Liebe nur wünschen können. Liang Li stemmt stattdessen im intimsten Augenblick sein zweifellos stattliches Bassorgan allzu juvenil und präpotent in die Gebirgsluft und kann auch darstellerisch den Altersunterschied zu seiner Frau Tatjana nicht glaubhaft machen.

Starkes Sängerensemble

Die übrigen Partien sind durchweg überzeugend, teils superb besetzt: Shigeo Ishino als Onegin verfügt über einen bemerkenswert markanten Bariton, der bruchlos von deklamatorischer Schärfe in sonore Kantilenenseligkeit zu wechseln vermag. Roman Shulackoff stattet seinen Lenski mit wunderbar lyrischem Tenor-Timbre aus. Seine große Wehmutsarie an die unauffällige Olga (Tatjana Raj) vor dem Duell singt er mit balsamischer Inbrunst.

Cornelia Wulkopf als bodenständig-altjüngferliche - tatsächlich früh zwangsverheiratete - Amme Filipjewna singt und spielt die geschäftstüchtige Gutsbesitzerwitwe Larina (Trine Ø ien), die eigentliche Strippenzieherin, in den Schatten. Karine Babajanyans Sopran wirkt in der Höhe nicht so frei schwebend wie sonst. Ihre Tatjana scheint den Orchesterklang an diesem Premierenabend besonders zu vermissen.

KulturSPIEGEL , November 2008
Eine sichere Sache: Die versierte Regisseurin Waltraud Lehner inszeniert das Puschkin-Drama von 1879, Marc Soustrot steht am Pult.