Süddeutsche Zeitung , 14.05.2014 - Rita Argauer
Zwei Blickwinkel - Viviers Oper „Kopernikus“ und eine Oper über Claude Vivier
München – Claude Vivier muss schon ein wenig versponnen gewesen sein. Doch die Neuinszenierung und Münchner Erstaufführung seiner Oper „Kopernikus“ in der Reaktorhalle mag so gar nicht zu dem Bild passen, das Marko Nikodjievic, ebenfalls im Rahmen der Münchener Biennale, in seiner groß angelegten Oper über Viviers Leben gezeichnet hat. Nun stehen sich diese beiden Blickwinkel auf Vivier aber innerhalb des Festivals zwangsläufig gegenüber: Einmal die Musik von Vivier selbst und einmal die vertonte Biografie des franko-kanadischen Komponisten, der im Paris der Achtzigerjahre von einem Stricher erstochen wurde.

Während Nikodijevics biografische Oper Vivier als einen verklemmten und psychisch labilen Charakter zeigt, dessen Wunsch nach Mystik und Transzendenz holzschnittartig auf die hyperrealistische Inszenierung prallt, findet eben diese Mystik in Waltraud Lehners „Kopernikus“ in der Reaktorhalle einen schönen Ausdruck. Das Libretto ist dabei reichlich wirr: Da trifft der Zauberer Merlin auf Mozart, und Aristoteles auf den Heiligen Sebastian – allesamt Figuren, die nach Übersinnlichkeit dürsten, diese aber nicht mehr in den bekannten Religionen finden können. Vielmehr spinnt Vivier an einer Art Welterklärungsformel, die sich von Gestalten der Antike über diverse Gottheiten zur modernen Theorie mehrerer, unendlicher Universen spannt. Das „Ensemble Oktopus für Musik der Moderne“ unter der Leitung von Konstantia Gourzi lässt die Musik dabei wunderbar licht und leicht wirken, was sowohl den Sängern, die größtenteils noch Studenten sind, als auch dem überfrachteten Libretto einen angemessenen Raum gibt.

Die Koloratursopranistin Danae Kontora schafft herrlich sinnliche Momente, die die abstrakte Regiearbeit von Waltraud Lehner plastisch und emotional werden lassen. Und dass Vivier selbst weit mehr als ein von seiner eigenen Psyche überranntes Hascherl gewesen sein muss, zeigt sich in der feinen und hintersinnigen Austarierung dieser Komposition. Ein gelungener Blick auf einen bisher wenig wahrgenommen Künstler. (SZ)
FAZ , 19.5.2014 - Gerhard Rohde
Klangbombe Kopernikus

Das ist das Eindrucksvollste, was man der Münchner Biennale attestieren möchte: dass sie durch Querverbindungen und Rückverweise das musikalische Erfinden unserer Gegenwart in eine ungebrochene Kontiuität der Musikgeschichte einzubinden vermag. Dass die musikalisch und szenisch auf höchstem Niveau stehende Aufführung von "Kopernikus" von Studierenden der Münchner Musikhochschule in Zusammenarbeit mit der Theaterakademie August Everding und der Biennale gestaltet wurde, zeigte, was an den heutigen Akademien für hervorragende Ausbildungsarbeit geleistet wird. (faz)

Münchner Merkur , 13.5.2014 - Johann Jahn
Münchner Biennale: Rituelle zwischen Leben und Tod – Die Oper "Kopernikus"

"Rituelle Oper des Todes" nannte Vivier sein Opus. Und es ist eine Gratwanderung für jeden Regisseur, sich nicht in der Statik eines Rituals zu verlieren. Doch die gelingt dem Team um Waltraud Lehner. Die kühlen Betonwände der Reaktorhalle bieten den passenden Rahmen für die schwarze Bühne. Die Akteure sind überwiegend Studierende der Musikhochschule, die alle großartig singen und spielen. Immer ist etwas in Bewegung, die Transformation soll erlebbar gemacht werden, vom Primaten zum ferngesteuerten Geläuterten. Der Gefahr der intellektuellen Überfrachtung entgeht Lehner durch Augenzwinkern, eine bedrückende Stimmung ist stets latent. Das hat freilich mit der befremdlich-schönen Sphärenmusik zu tun, wunderbar ausgelotet von Konstantia Gourzi und ihrem ensemble oktopus. Eine lohnenswerte Beschäftigung mit den heiklen Fragen zu Dies- und Jenseits.

nmz , 13.05.2014 - Juan Martin Koch
Jenseits der Worte: Nikolaus Brass’ „Sommertag“ und Claude Viviers „Kopernikus“ bei der Münchner Biennale

Gut gealterter „Kopernikus“

Nicht minder enthusiastisch war tags zuvor die Reaktion auf das Geschenk ausgefallen, das die Münchner Hochschule für Musik und Theater der Biennale machte: Den Bogen zur Auftaktproduktion „Vivier“ schlagend, präsentierte sie in der Reaktorhalle mit „Kopernikus“ (1979) Claude Viviers einziges vollendetes Bühnenwerk.

Dieses „Opernritual des Todes“ („opéra-rituel de mort“ lautet Viviers Untertitel) ist in seinem Transzendenzanspruch kaum inszenierbar. Auch Regisseurin Waltraud Lehner braucht eine Weile, bis sich nach aktionistischem Beginn jene Ruhe und Gelassenheit einstellt, in der man sich als Zuschauer auf die spirituelle Reise Agnis und seine Begegnungen mit Kopernikus, Lewis Carroll, Merlin, Mozart und anderen, von Vivier als „mythische Wesen“ gedeuteten Figuren einlassen kann.

Getragen wurde der Abend von einer großartigen Leistung des bis auf eine Ausnahme (Jens Müller) aus Studierenden gebildeten Ensembles: Danae Kontora, Andromahi Raptis, Luise Höcker, Manuel Adt und Alexander Kiechle erfüllten Viviers ganz eigene melodische Sprache mit Leben und waren auch den heiklen Zusammenklängen gut gewachsen. Aus dem Graben agierte hochkompetent das ensemble oktopus der Hochschule unter der Leitung Konstantia Gourzis.

Viviers Fähigkeit, Instrumente solistisch auch in konventioneller Spieltechnik so klingen zu lassen, als hörte man sie zum ersten Mal, machten Sarah Mücke (Violine), Myriam Ströher (Oboe), Markus Rendl, Dora Gergely, Felicia Bulenda (Klarinetten), Yael Gat (Trompete), Michael Bigelmaier (Posaune) und Philipp Sammet (Schlagzeug) auf faszinierende Weise erfahrbar. Claude Viviers Musik ist, so die Erkenntnis des Abends, ausgesprochen gut gealtert. (nmz)

BR Klassik , 12.05.2014 - Johann Jahn
Münchener Biennale Oper "Kopernikus" von Claude Vivier

 Claude Viviers kurzes Leben ist spannend, verstörend und mysteriös. Als Adoptivkind der Familie Vivier wächst er in Montreal auf und besucht ein Priesterseminar, wo er dank einer Erscheinung zur Musik findet. Nachdem die Biennale mit einer Auftragsoper über den Komponisten begonnen hatte, stand nun seine einzige Oper mit dem Titel "Kopernikus" auf dem Programm.

Die Suche nach Identität und Fragen zu Glauben, Ritus und Transzendenz werden zum Leitmotiv seines Schaffens, das vor allem von Reisen durch Asien geprägt ist, immer wieder angetrieben von einer fast schon fanatischen Todessehnsucht. 1983 wird der 34jährige Claude Vivier in Paris ermordet, während er an einem Stück schreibt mit dem Titel „Glaubst du an die Unsterblichkeit der Seele?"

Zwischen Leben und Tod

Claude Vivier (1948 - 1983)

Vivier hatte einmal mehr etwas sehr Spezielles im Sinn: Eine Handlung gibt es eigentlich nicht, es ging ihm vielmehr um die Darstellung jener Sphäre, die ihn schon früh faszinierte, und die er immer wieder auszuloten versuchte: der Spagat zwischen Leben und Tod. Ausgewählt hat er dafür die weibliche Figur Agni, benannt nach dem hinduistischen Feuergott. Auf ihrer Reise ins Jenseits erscheinen Agni mythische und historische Gestalten zwischen Merlin, Tristan und Isolde und Mozart. Der titelgebende Mathematiker und Astronom Kopernikus wird am Ende nur kurz erwähnt, er steht als Symbol für das Aufbrechen in neue, unentdeckte Weiten des Kosmos.

Viviers einzige Oper "Rituelle Oper des Todes"

Vivier nannte sein Werk „Rituelle Oper des Todes“ und schrieb dazu eine eindringliche Klanglandschaft, durchwoben mit homophonen Choralpassagen, murmelnden Ostinato-Bässen, weichen Streicherbetten und fernöstlicher Couleur wie Gong und Röhrenglocken. Man kann sich der Macht nur schwer entziehen – die Gefahr einer gewissen Statik, die Gefahr, sich im Ritual zu verlieren, ist freilich auch gegeben. Diese Gratwanderung ist dem Team um Regisseurin Waltraud Lehner gelungen: die kühlen grauen Betonwände der Reaktorhalle bieten einen idealen Rahmen für die schwarze Bühne. Die wird von den Akteuren klug bespielt, mit schmalem Steg über den Orchestergraben zu den steil nach hinten ansteigenden Publikumsrängen.

Keine intellektuelle Überfrachtung

Nie herrscht Gleichheit, immer ist etwas in Bewegung, Veränderung – die Transformation wird somit gestisch erlebbar, vom Primaten zum geläuterten, ferngesteuerten Wesen, in schlichtem Schwarz gehalten, hin und wieder mit Kostüm-Anspielungen, wie eine Mozartperücke oder schwarze Mönchskutte. Ein großes Plus der Produktion ist das Vermeiden von intellektueller Überfrachtung. Die Szene, in der Kopernikus und andere historische Größen genannt werden, ist eine reißerische Gewinnshow. Das lockert auf und löst kurz die Grenzen zwischen Bühne und Publikum.

Kurzweilige, gut gemachte 70 Theater-Minuten

Die Sänger, die meisten Anfang 20, leisten dabei Großes, fordert Vivier neben speziellen Gesangstechniken auch hin und wieder eine eigene erfundene Sprache, in manchen Tableaus rhythmisch-tonal vertrackt übereinandergelegt.
Zusammengehalten und angetrieben werden sie von Konstantia Gourzi und ihrem "ensemble oktopus", mit starken Momenten vor allem im Leisen, wie etwa ganz am Ende, als Klang wie Ensemble sozusagen ins Jenseits entschwinden. So sind es 70 kurzweilige, rundum gut gemachte Theater-Minuten, die einen ein bisschen ratlos zurücklassen. Aber das ist auch gut so: Die eine richtige Lösung in Sachen Jenseits und Unendlichkeit gibt es nicht. Aber man kann ruhig mal wieder darüber nachdenken. (BR Klassik)

terz , 22. Mai 2014 - Julian Kämper
Münchner Biennale 2014

Claude Viviers Oper Kopernikus von 1980 bezieht gerade aus der Ablehnung jeglicher Rationalität seine Wirkungskraft. Mit hohem Abstraktionsgrad, der einer linearen und nachvollziehbaren Narration entsagt, folgte eine Reihe von Bildern und Ritualen, die sich mit unterschiedlichen Seelenzuständen befasste, von rudimentär-animalischen Stadien bis hin zum Erreichen höherer Bewusstseinsebenen. Das Libretto strickt eine Ikonografie, die kulturgeschichtlich in sämtliche Richtungen ausgreift, die aber zu sehr zerfasert, um einem Handlungsstrang zu ergeben. Kopernikus ist die einzige vollendete Oper Viviers, ein gesamtheitlich gedachtes Werk, bei dem auch in der neuen Münchner Version alle künstlerischen Elemente bestens ineinandergriffen. Claude Viviers Oper Kopernikus von 1980 bezieht gerade aus der Ablehnung jeglicher Rationalität seine Wirkungskraft. Möglicherweise war es die wertvolle Unbekümmertheit und Neugier der Sängerinnen und Sänger der Münchner Hochschule für Musik und Theater, mit der sie sich stimmlich den musikalischen Eigenheiten des Werkes, gleichsam auch dem Szenischen stellten. Die Performativen Elemente erforderten ein Austreten aus dem eigenen Sänger-Metier und ein Abheben in den Vivierschen Kosmos, die jungen Protagonisten lösten dies mit Witz und Präzision zweifellos ein. Regisseurin Waltraud Lehner erhob bei ihrem Münchner Debüt sensationell die Zeitlosigkeit der Reaktorhalle kraft unfasslicher Raumdimensionen zum Prinzip. Die Musik, in einer ungewöhnlichen kammermusikalischen Besetzung (es spielte das ensemble oktopus für musik der moderne) mit 3 Klarinetten, Violine, Trompete, Posaune und Schlagwerk, war nur stellenweise symbolisch eingesetzt. Vielmehr war sie ein imposantes Hintergrundrauschen, ein schwer zu konkretisierender Klangblock, der zum Medium für die transzendentalen Sphären wurde. Die musikalische Leiterin Konstantia Gourzi hielt in den reduzierten sowie in den aufgeladenen Tutti-Passagen all den geballten Klang zusammen, den sie vorher in einem offenen Prozess mit den Studierenden ausgeformt hat. (terz)

Klassikinfo , 12.5.2014 - Robert Jungwirth
Sehnsucht nach Entmaterialisierung

Um Todessehnsucht und Verlusterfahrung geht es in den beiden Opern „Kopernikus“ von Claude Vivier und „Sommertag“ von Nikolaus Brass, die jetzt bei der Münchner Biennale gezeigt wurden

Ein junges Paar zieht von der Stadt aufs Land, an einen Fjord. Das Haus ist schön, die Umgebung nicht minder. Die Idylle scheint perfekt. Und doch kommt Unruhe auf. Irgendetwas stimmt plötzlich nicht mehr zwischen den beiden. Der Mann verbringt die meiste Zeit auf seinem Boot. Gespräche bleiben unbefriedigend, bringen nur noch mehr Ungewißheit. Eines Tages kehrt der Mann nicht mehr nach Hause zurück.  
Was geschehen ist, bleibt in Jon Fosses Theaterstück „Sommertag“ offen. Beging der Mann Selbstmord oder ist er einfach davon gegangen? Und auch Nikolaus Brass‘ gleichnamige Kammeroper liefert selbstverständlich keine Erklärung für das Verschwinden. Denn die Ungewissheit ist das Thema von Fosse und von Brass. Brass füllt die Leerstellen des Textes, die Pausen, das Sinnieren und Grübeln der verlassenen Frau mit Musik auf. Das liegt nahe, und Brass gelingen dafür auch verstörend intensive Klänge. Aber das musikalische Textgeflecht von Fosses Stück, diese suggestive Sprachkomposition wird dadurch zerstört. Der Text spielt kaum mehr eine Rolle bei Brass, er wird auf ein Minimum reduziert und im Grunde ersetzt durch die Musik.

Ist „Sommertag“ also überhaupt eine Oper? Ist es nicht vielmehr eine musikalische Reflexion über ein Theaterstück? Auch das ist legitim und - wie gesagt - in weiten Teilen sehr überzeugend gemacht. So wirkt Brass‘ Kammermusiktheater mehr wie eine Schauspielmusik. Auch, weil den handelnden, bzw. reflektierenden Personen - sie werden übrigens gedoppelt, um sie in verschiedenen Zeitebenen darzustellen – nur ein winziges Orchester aus Einzelstimmen hinzugesellt wird. Jede Person bekommt ihr eigenes Instrument zugeordnet. Klangliche Verdichtungen und Komplexität entstehen so kaum. Vereinzelung und Einsamkeit, die Hauptthemen von Jon Fosses Stück, werden so auch musikalisch erfahrbar. Vor allem in einem minutenlangen schmerzlich-brüchigen Violinsolo, das die Seelenpein der jungen Frau spiegelt. Das ist von großer Eindringlichkeit wie auch die schauspielerischen und gesanglichen Leistung der Sängerinnen und Sänger der Neuen Stuttgarter Vokalsolisten, allen voran Sarah Maria Sun und Troike von der Poel als junge und alte Frau.

Die Regie von Christian Marten-Molnar stützt sich ganz auf die darstellerische Kraft der Akteure, Kulissen gibt es bis auf ein paar Stühle und einen hölzernen Laufsteg keine. Und auch die Projektionen an den Wänden des quadratischen Raums sind eher vernachlässigenswert. Atmosphärisch wird hier nichts kreiert. Die Sänger sind auf sich selbst zurückgeworfen und müssen ihre Geschichte allein durch ihren meist textlosen Gesang erzählen. Was ihnen dabei hilft, ist die freie Anlage der Komposition in sogenannten Time-Brackets, also Zeitrastern innerhalb derer die Sänger den Notentext frei gestalten können und damit im Grunde wie Schauspieler die zeitliche Ausdehnung ihres Parts frei bestimmen. Und natürlich bleiben auch bei Brass noch jede Menge Leerstellen und Ungewissheiten, die der Zuschauer mit eigenen Assoziationen füllen kann. Auch wenn „Sommertag“ von Nikolaus Brass vielleicht keine Oper ist, zieht sie den Zuhörer doch in ihren Bann - und das ist keine geringe Leistung. (KlassikInfo)

cult:online , 16.5.2014 - Britta Schönhütl
Münchener Biennale 2014: Claude Viviers „Kopernikus“ und Nikolaus Brass’ „Sommertag“ verbindet der Mut

Zweimal Musiktheater, zweimal eine Reise in den Tod – für die Figuren und vor allem das Publikum

Zwei Inszenierungen, die etliches gemeinsam haben und nicht unterschiedlicher sein könnten: Auf der 14. Münchener Biennale werden Claude Viviers Oper „Kopernikus – opéra-rituel de mort“ und Nikolaus Brass’ Kammermusiktheater „Sommertag“ gezeigt – und lassen das Publikum Himmel und Hölle erfahren.

Dass Claude Vivier als Typ recht spannend war, zeigte Marko Nikodijevi? mit seinem Beitrag zur diesjährigen Biennale. In „Vivier“ wird das Publikum zusammen mit dem Komponisten auf eine Reise in die Vergangenheit geschickt, um die wichtigsten Stationen in Viviers Leben zu besuchen: seine Zeit im Waisenhaus, die Adoption in arme Verhältnisse, die Ausbildung zum Priester, seine Asien-Tour und die sich langsam entwickelnde Liebe zur Musik. Vor seiner Ermordung vollendete Claude Vivier im Jahr 1978 nur eine einzige Oper, die nun im Programm der Biennale Extra läuft: Waltraud Lehner inszeniert Viviers „Kopernikus“ mit Sängern und Musikern der Hochschule für Musik und Theater München. Zusätzlich ist sie als Dramaturgin beim „Sommertag“ tätig – die erste Querverbindung dieser beiden Produktionen, die in ihren Ansätzen so grundverschieden sind.

Denn Viviers „Kopernikus“ setzt auf Zusammenspiel. Die Sängerinnen und Sänger lassen ihre Stimmen mit dem Klang des Orchesters durch die Luft tanzen und erschaffen so eine eigene Welt. Eine Art Glaskugel, die immer wieder kräftig durchgeschüttelt wird und neue Klang-Formationen bildet. Dabei wird eigentlich keine Handlung erzählt, sondern eher eine Szenenabfolge beschrieben, durch die sich als roter Faden – in Claude Viviers Musik und in Waltraud Lehners Inszenierung – die Themen Tod, Spiritualität und Träumen ziehen. Die szenische und die musikalische Ebene funktionieren nicht nur jeweils für sich gesehen, sondern eben auch im Zusammenspiel, was den exzellenten Sängern und dem ensemble oktopus unter der Leitung von Konstantia Gourzi zu verdanken ist. Bis auf einen studieren alle sieben Sänger an der Hochschule für Musik und Theater München, was ihre Leistung noch bemerkenswerter macht. Besonders Danae Kontora und Andromahi Raptis stechen durch ihre Präsenz und Stimme hervor: Egal ob als Affe verkleidet, an einem Seil in der Luft baumelnd oder wie wahnsinnig vor sich hinplappernd – es ist eine Freude, ihnen allen zuzuhören und zuzusehen. Was auch am klugen Bühnenbild von Ulrich Frommhold liegt, der durch kleine Mittel wie metallische Wärmedecken oder Barbie-Püppchen gewaltige Effekte erzielt: Zu Beginn sieht man nur die karge, graue Steinwand, den abgeschabten Boden und darüber verteilt kleine Hügelchen, die golden-metallisch glitzern. Plötzlich kommen von überall her Töne, Summen, seltsame Geräusche – genauer gesagt von den Sängern unter den Wärmedecken, aus denen sie sich dann einer nach dem anderen entpuppen, während der Klangfluss nie abbricht und immer mehr Instrumente hinzu kommen. Da zeigt sich wieder eben jene Fähigkeit zum Zusammenspiel, die Waltraud Lehner mit ihrem „Kopernikus“ beweist: Bühne, Kostüme (Katherina Kopp) und Licht (Johannes Horras) liefern einen Mehrwert zu dem, was auf der musikalischen und szenischen Ebene passiert – ganz im Gegensatz zu Nikolaus Brass’ „Sommertag“. Dessen Ansatz ist vielmehr, die an sich schon sehr rudimentäre Narration durch die szenische Umsetzung zu doppeln und die Leere so noch dröhnender werden zu lassen. „Sommertag“ basiert auf dem gleichnamigen Stück von Jon Fosse, dem norwegischen Autor, der bekannt ist für seine leeren, unvollendet artikulierten Worte und Sätze. Er zeichnet Figuren, die unentwegt aneinander vorbei zu reden scheinen und sich dennoch verstehen, ihre Emotionen durch die banalen Dialoge irgendwie trotzdem vermitteln können. Der Komponist Nikolaus Brass hat das Stück für die Biennale bearbeitet und zusammen mit Waltraud Lehner und Katherina Kopp in ein Kammermusiktheater umgemodelt: mit besonderem Fokus auf Sinnlosigkeit – der Worte und des Konzepts. Unter der Regie von Christian Marten-Molnár sieht das Publikum also fünf Mitglieder der Neuen Vocalsolisten Stuttgart in heimeliger Ikea-Atmosphäre durch die Gegend stottern und fallen, während Sätze wie „Ja so war es“ oder „Aber dir geht es gut“ an die vier Wände rundherum projiziert werden und ein Butoh-Tänzer in der Ecke steht. Die vier Zuschauer-Blöcke sind rautenförmig im Raum angeordnet, sodass hinter und vor den Stuhlreihen mit Surround-Sound gespielt werden kann. Außer einer Rampe, einem Laufsteg-ähnlichen Quader und ein paar Stühlen in der Bühnenmitte – alle im gleichen, hellen Billig-Holz-Look – gibt es nichts zu sehen. In den ersten Reihen ist jeweils ein Platz frei gehalten, auf den sich Truike van der Poel setzt, wenn sie nicht dran ist, weil sie gerade ihrem jüngeren Ich zusieht. Die ältere Frau erinnert sich nämlich gemeinsam mit einer Freundin an den Tag, an dem ihr Mann auf den Fjord hinausfuhr und nie wieder kam: ein Prozess, der auf 100 Minuten gestreckt wird, in denen die Instrumente – bis auf wenige Minuten Ausnahme – einzeln spielen und den Legasthenie-Gesang des Ensembles begleiten. Während ein zwei Minuten langes „Ja“ gesungen wird, ist man dann ganz froh über ein bisschen Instrumentalmusik zwischendurch, die beeindruckend virtuos ist – ohne Mehrwert allerdings. Auch die Videoprojektion von sich drehenden Objekten, grieseligem Schneetreiben oder Wellenbewegungen helfen da nicht, sondern erinnern schmerzhaft an Windows-Bildschirmschoner.

Es wird also weder in „Kopernikus“ noch in „Sommertag“ tatsächlich so etwas wie klassische Handlung erzählt: eine weitere Querverbindung. Beide Werke können eher als Reise in den Tod verstanden werden – auf ihre jeweils eigene Weise. „Kopernikus“ lässt eine imaginäre Welt entstehen, in der Talkshow-Elemente genauso zuhause sind wie Mozart oder Lewis Caroll. Eine Welt, die in sich und eben auch inszeniert noch stimmig ist. „Sommertag“ hingegen lässt die Figuren an ihren eigenen verkrüppelten Worten an der Wand abprallen und in Zeitlupe in einem schwarzen Loch versinken. Der alleinige Unterschied zwischen Ensemble und Publikum ist der, dass die Sänger und Musiker als einzige nicht im Programmheft lesen. Sie singen und spielen, wie sie sollen, kommen gegen das Monster Langeweile aber nicht an.

Dabei verbindet die beiden Inszenierungen der wohl wichtigste Grundsatz im Musiktheater: der Mut. Beide Komponisten setzen auf lautmalerische Elemente, auf Nonsens-Sprache, auf Kommunikation ohne decodierbare Worte. Wenn sich die Frauen im „Sommertag“ den Mund zuhalten und angestrengt summen oder mit den Lippen vibrieren, schauen die Zuschauer auf die Uhr. Wenn aber die Frauen in „Kopernikus“ Indianergeräusche imitieren, indem sie mit der Handfläche auf den Mund klopfen, oder begleitet von Pfeif-Brumm-Geräuschen mit den Ärmchen flattern, dann funktioniert das. Es ist das Gesamtkonzept, das bei Vivier und Lehner aufgeht, und Nikolaus Brass traut sich, etwas Neues auszuprobieren. (cult:online)