Zweimal Musiktheater, zweimal eine Reise in den Tod – für die Figuren und vor allem das Publikum
Zwei Inszenierungen, die etliches gemeinsam haben und nicht unterschiedlicher sein könnten: Auf der 14. Münchener Biennale werden Claude Viviers Oper „Kopernikus – opéra-rituel de mort“ und Nikolaus Brass’ Kammermusiktheater „Sommertag“ gezeigt – und lassen das Publikum Himmel und Hölle erfahren.
Dass Claude Vivier als Typ recht spannend war, zeigte Marko Nikodijevi? mit seinem Beitrag zur diesjährigen Biennale. In „Vivier“ wird das Publikum zusammen mit dem Komponisten auf eine Reise in die Vergangenheit geschickt, um die wichtigsten Stationen in Viviers Leben zu besuchen: seine Zeit im Waisenhaus, die Adoption in arme Verhältnisse, die Ausbildung zum Priester, seine Asien-Tour und die sich langsam entwickelnde Liebe zur Musik. Vor seiner Ermordung vollendete Claude Vivier im Jahr 1978 nur eine einzige Oper, die nun im Programm der Biennale Extra läuft: Waltraud Lehner inszeniert Viviers „Kopernikus“ mit Sängern und Musikern der Hochschule für Musik und Theater München. Zusätzlich ist sie als Dramaturgin beim „Sommertag“ tätig – die erste Querverbindung dieser beiden Produktionen, die in ihren Ansätzen so grundverschieden sind.
Denn Viviers „Kopernikus“ setzt auf Zusammenspiel. Die Sängerinnen und Sänger lassen ihre Stimmen mit dem Klang des Orchesters durch die Luft tanzen und erschaffen so eine eigene Welt. Eine Art Glaskugel, die immer wieder kräftig durchgeschüttelt wird und neue Klang-Formationen bildet. Dabei wird eigentlich keine Handlung erzählt, sondern eher eine Szenenabfolge beschrieben, durch die sich als roter Faden – in Claude Viviers Musik und in Waltraud Lehners Inszenierung – die Themen Tod, Spiritualität und Träumen ziehen. Die szenische und die musikalische Ebene funktionieren nicht nur jeweils für sich gesehen, sondern eben auch im Zusammenspiel, was den exzellenten Sängern und dem ensemble oktopus unter der Leitung von Konstantia Gourzi zu verdanken ist. Bis auf einen studieren alle sieben Sänger an der Hochschule für Musik und Theater München, was ihre Leistung noch bemerkenswerter macht. Besonders Danae Kontora und Andromahi Raptis stechen durch ihre Präsenz und Stimme hervor: Egal ob als Affe verkleidet, an einem Seil in der Luft baumelnd oder wie wahnsinnig vor sich hinplappernd – es ist eine Freude, ihnen allen zuzuhören und zuzusehen. Was auch am klugen Bühnenbild von Ulrich Frommhold liegt, der durch kleine Mittel wie metallische Wärmedecken oder Barbie-Püppchen gewaltige Effekte erzielt: Zu Beginn sieht man nur die karge, graue Steinwand, den abgeschabten Boden und darüber verteilt kleine Hügelchen, die golden-metallisch glitzern. Plötzlich kommen von überall her Töne, Summen, seltsame Geräusche – genauer gesagt von den Sängern unter den Wärmedecken, aus denen sie sich dann einer nach dem anderen entpuppen, während der Klangfluss nie abbricht und immer mehr Instrumente hinzu kommen. Da zeigt sich wieder eben jene Fähigkeit zum Zusammenspiel, die Waltraud Lehner mit ihrem „Kopernikus“ beweist: Bühne, Kostüme (Katherina Kopp) und Licht (Johannes Horras) liefern einen Mehrwert zu dem, was auf der musikalischen und szenischen Ebene passiert – ganz im Gegensatz zu Nikolaus Brass’ „Sommertag“. Dessen Ansatz ist vielmehr, die an sich schon sehr rudimentäre Narration durch die szenische Umsetzung zu doppeln und die Leere so noch dröhnender werden zu lassen. „Sommertag“ basiert auf dem gleichnamigen Stück von Jon Fosse, dem norwegischen Autor, der bekannt ist für seine leeren, unvollendet artikulierten Worte und Sätze. Er zeichnet Figuren, die unentwegt aneinander vorbei zu reden scheinen und sich dennoch verstehen, ihre Emotionen durch die banalen Dialoge irgendwie trotzdem vermitteln können. Der Komponist Nikolaus Brass hat das Stück für die Biennale bearbeitet und zusammen mit Waltraud Lehner und Katherina Kopp in ein Kammermusiktheater umgemodelt: mit besonderem Fokus auf Sinnlosigkeit – der Worte und des Konzepts. Unter der Regie von Christian Marten-Molnár sieht das Publikum also fünf Mitglieder der Neuen Vocalsolisten Stuttgart in heimeliger Ikea-Atmosphäre durch die Gegend stottern und fallen, während Sätze wie „Ja so war es“ oder „Aber dir geht es gut“ an die vier Wände rundherum projiziert werden und ein Butoh-Tänzer in der Ecke steht. Die vier Zuschauer-Blöcke sind rautenförmig im Raum angeordnet, sodass hinter und vor den Stuhlreihen mit Surround-Sound gespielt werden kann. Außer einer Rampe, einem Laufsteg-ähnlichen Quader und ein paar Stühlen in der Bühnenmitte – alle im gleichen, hellen Billig-Holz-Look – gibt es nichts zu sehen. In den ersten Reihen ist jeweils ein Platz frei gehalten, auf den sich Truike van der Poel setzt, wenn sie nicht dran ist, weil sie gerade ihrem jüngeren Ich zusieht. Die ältere Frau erinnert sich nämlich gemeinsam mit einer Freundin an den Tag, an dem ihr Mann auf den Fjord hinausfuhr und nie wieder kam: ein Prozess, der auf 100 Minuten gestreckt wird, in denen die Instrumente – bis auf wenige Minuten Ausnahme – einzeln spielen und den Legasthenie-Gesang des Ensembles begleiten. Während ein zwei Minuten langes „Ja“ gesungen wird, ist man dann ganz froh über ein bisschen Instrumentalmusik zwischendurch, die beeindruckend virtuos ist – ohne Mehrwert allerdings. Auch die Videoprojektion von sich drehenden Objekten, grieseligem Schneetreiben oder Wellenbewegungen helfen da nicht, sondern erinnern schmerzhaft an Windows-Bildschirmschoner.
Es wird also weder in „Kopernikus“ noch in „Sommertag“ tatsächlich so etwas wie klassische Handlung erzählt: eine weitere Querverbindung. Beide Werke können eher als Reise in den Tod verstanden werden – auf ihre jeweils eigene Weise. „Kopernikus“ lässt eine imaginäre Welt entstehen, in der Talkshow-Elemente genauso zuhause sind wie Mozart oder Lewis Caroll. Eine Welt, die in sich und eben auch inszeniert noch stimmig ist. „Sommertag“ hingegen lässt die Figuren an ihren eigenen verkrüppelten Worten an der Wand abprallen und in Zeitlupe in einem schwarzen Loch versinken. Der alleinige Unterschied zwischen Ensemble und Publikum ist der, dass die Sänger und Musiker als einzige nicht im Programmheft lesen. Sie singen und spielen, wie sie sollen, kommen gegen das Monster Langeweile aber nicht an.
Dabei verbindet die beiden Inszenierungen der wohl wichtigste Grundsatz im Musiktheater: der Mut. Beide Komponisten setzen auf lautmalerische Elemente, auf Nonsens-Sprache, auf Kommunikation ohne decodierbare Worte. Wenn sich die Frauen im „Sommertag“ den Mund zuhalten und angestrengt summen oder mit den Lippen vibrieren, schauen die Zuschauer auf die Uhr. Wenn aber die Frauen in „Kopernikus“ Indianergeräusche imitieren, indem sie mit der Handfläche auf den Mund klopfen, oder begleitet von Pfeif-Brumm-Geräuschen mit den Ärmchen flattern, dann funktioniert das. Es ist das Gesamtkonzept, das bei Vivier und Lehner aufgeht, und Nikolaus Brass traut sich, etwas Neues auszuprobieren. (cult:online)