Kritiken

zu «Girotondo»

Deutschlandradio Kultur , 23. Juli 2011 - Nachtkritik mit Rainer Zerbst
Girotondo

Waltraud Lehner hat eine ganz grandiose Inszenierung gemacht, ingeniös geradezu. Was macht sie? Sie lässt sich von der Video­künstlerin Judith Konnerth erst einmal ein Riesenrad einblenden, das sich im Kreis dreht. Dann kommt ein Kettenkarussell, der Inbegriff des in sich immer wieder Drehenden. In dem Kettenkarussell der Film­einspielung sitzen die Paare des "Reigen" – scheinbar glücklich, doch ist das ein Glück, das ihnen auf der Bühne, in den Szenen, verwehrt bleiben wird. Da geht ja letztlich bloß um Sex und dann geht man ja schon wieder auseinander.

 
Die Bühne besteht aus einer riesigen Drehbank, die mal hinter einem Vorhang verschwindet und, wenn sie wieder hervorkommt, sitzen schon wieder die nächsten Paare drauf. Damit hat sie den "Reigen" gewissermaßen ironisiert. Schöner kann man kaum mehr inszenieren.

Und wenn dann alles zu Ende geht, macht sie eine Abschiedsympho­nie von Haydn daraus. Es sitzen alle auf einer Bank, wir hören eine Stimme von hinter der Bühne, und nach und nach verlässt jede der Figuren, einzeln natürlich – denn sie haben ja nichts mehr miteinander zu tun – die Bank und Bühne. Am Schluss lässt sie in einem Abspann wieder als Video sämtliche Mitwirkenden von den Sängern bis hin zum letzten Inspizienten aufführen – hinreißend komisch gemacht.

klassikinfo , 24. Juli 2011 - Klaus Kalchschmid
Girotondo

Die deutsche Erstaufführung von Fabio Vacchis "Girotondo" nach Schnitzler in Stuttgart


Regisseurin Waltraud Lehner tritt die Flucht nach vorn an und treibt das erotische Verwirrspiel noch weiter. Die raffinierte Bühne von Benno Brösicke ist dafür die ideale Spielwiese: Sie besteht aus einer Art liegender breiter Zeiger mit zwei "Toren" am Beginn und Ende, von denen eines bei der Rotation hinter einer großen gebo­genen Leinwand vorbeifährt und so unsichtbar Umbauten möglich sind. Während Schauplätze wie ein altes, hölzernes, sich bewegendes Kettenkarussell, Golfplatz oder Tennisspiel, Kirchenfenster oder eine Wohnzimmertapete projeziert werden, findet sich vorne eine Couch, ein Beichtstuhl oder eine Dreierbank im Flugzeug. Darauf ereignet sich eine der stärksten und komischsten Szenen der Aufführung: Loriot-verdächtig mischt da ein Pinguin das Duett zwischen Donnina Galante (eine Kombination aus Domina und Donna Galante, bei Schnitzler "das süße Mädel" - die Altistin Diana Haller) und Ehemann (der kernige Bariton Kai Preußker mit viel Spiel­witz) auf. Lektüre, Essen, Gespräch: alles wischen die unkontrollierten Flossen des Pinguins vom Tisch. Auch seine zweite Partnerin - die zickige Ehefrau - erfährt in der Mezzosopranistin Tajana Raj eine stimmlich und darstellerisch prägnante Verkörpe­rung.

Vacchis Musik beginnt großartig, das Duett des ersten Paars (Szymon Chojnacki als viriler Bassbariton und Saejoung Choi) auf einem Motorrad und wie sie da Sex prak­tizieren - aus dem Soldaten ist ein Pizzabote geworden - schillert betörend zwischen Sprechen, Parlando und ariosem Gesang, die 20 solistisch besetzten Orchestermu­siker (rechts Streicher und Klavier, links Holz und Blech plus zwei Schlagzeuger) bilden einen farbigen Hintergrund; die Arietta der Dirne (ein wunderbares Koloratur­sopran-Gezwischter von  Saejoung Choi) erfährt eine virtuose Begleitung nur durch zwei Soloflöten. Auch später verschmelzen die Vokal- mit den Orchesterstimmen manchmal betörend, gibt es ein grandioses Violinsolo für eine Arie, aber nach einer Stunde - mit Beginn der großen Arie der Schauspielerin (Larissa Ciulei), hier vokal aufgesplittert oder verschmolzen mit den beiden anderen Sopranen, verliert die Musik zwar nicht an Schönheit, aber wird allmählich immer undurchsichtiger, mäandert sie ohne erkennbare und für die Szene charakteristische Faktur vor sich hin.

Ein langes Nachspiel beendet die Oper, und das Produktionsteam, darunter Astrid Eisenberger (Kostüme), Reinhard Schaible (Licht) und Judith Konnerth (Video), verfällt dafür auf eine wunderbare Idee: in einem auf der Leinwand laufenden Nach­spann wie im Film werden alle Beteiligten aufgeführt, teils ironisch gebrochen (Coach Johannes Harneit erscheint als doppelter Best Best Boy). Das ist zugleich ein feiner Hinweis darauf, dass Vacchi seit 2001 auch Filmmusiken schreibt, unter anderem für Ermanno Olmi oder für Patrice Chéreaus "Gabrielle" (2005).

Esslinger Zeitung , 26. Juli 2011 - Verena Grosskreutz
Unstillbare Sehnsucht

Was den Abend in Gang hielt, war nicht nur das neunköpfige, durchweg überzeugend agierende und singende Ensemble, sondern auch Waltraud Lehners Inszenierung, die das Publikum mit melancholischen Bildern, einer fein gearbeiteten Personenführung und vielen witzigen Einfällen bei der Stange hielt. Das minimalistische Bühnenbild von Benno Brösicke – ein kreisender Steg, an dem Videoinstallationen für die Weitung des Raumes und für die kommentierenden Bilder sorgen (Video: Judith Konnerth) – entwickelte seine ganz eigene Dynamik: Zu Beginn drehen menschenleere Riesen­räder und Kettenkarussells ihre Runden, schnell baut sich ein Kirchenraum auf, eine grasgrüne Landschaft oder die Schaltzentrale eines Kraftwerks.

Im Kettenkarussell drehen nun die Protagonisten ihre Runde: die Nutte (Seajoung Choi), der Pizzabringer (Szymon Choijnacki), die Ehefrau (Tajana Raj), die Schauspielerin (Larissa Ciulei), der Doktor (Konrad Lucas), die Gardero­benfrau (Mirella Hagen). Sie winken etwas schwermütig in die Kamera. Es bleiben nur Leere und Einsamkeit. Und eine unstillbare Sehnsucht.

Stuttgarter Zeitung , 26. Juli 2011 - Markus Dippold
Liebe macht nicht jeden glücklich

Das Leben ist ein Kreislauf ohne Fluchtmöglichkeit. Darauf lässt sich die hundertminütige Oper "Girotondo" von Fabio Vacchi reduzieren, die nun als Produktion der Stuttgarter Staatsoper ihre deutsche Erstaufführung im Kammertheater erlebt hat.

Waltraud Lehner greift in ihrer Inszenierung die Idee des Kreislaufs in einer simplen zündenden Idee auf. Gleich dem Zeiger einer riesenhaften Uhr lässt sie einen schmalen Laufsteg kreisförmig rotieren, auf dem sich die Figuren produzie­ren dürfen (Bühne: Benno Brösicke). Eine gerundete Wand im Hintergrund dient als Projektionsfläche für Videoeinspielungen und gibt zugleich die Möglichkeit, für das Publikum unsichtbar Aufsätze auf den rotierenden Laufsteg anzubringen.

Da darf schon am Beginn der Soldat, den Lehner zum Pizzaboten umfunktioniert, auf seinem Minimotorroller kreisen. Später gleitet der junge Herr samt Golfschläger ins Bild, während seine Sekretärin (in der Urfassung bei Schnitzler eigentlich ein Stubenmädchen) sich im Drehsessel lümmelt. Die bis zur Langeweile reichende Routine, die dabei intendiert scheint, könnte Programm sein, denn Schnitzlers Stück legt es nahe, dass die Figuren eben kein Glück in den flüchtigen Liebesakten erfahren.

Und auch Vacchi verweigert ihnen die musikalische Erfüllung, viel zu sperrig ist dafür seine Partitur. Dumpfe Trommeln, flüchtige Flötentöne und immer wieder expressio­nistisch getönte Streicherpassagen prägen das Klangbild, unterlaufen dabei die kleinen melodischen Einsprengsel der Singstimmen. Vor allem der Konzertmeister Joachim Schall muss hier Abenteuerliches leisten. Die zwanzig Mitglieder des Staatsorchesters, in zwei Gruppen seitlich der Bühne aufgeteilt, bewältigen ihre reichlich unbequeme Aufgabe aber mit Bravour und werden dabei von Stefan Schreiber am Dirigentenpult sehr souverän gesteuert.

Ebenso souverän gelingt den acht Sängern die Umsetzung ihrer Partien. Saejoung Choi schlägt sich als Prostituierte wacker in der Soubretten-Stratosphäre, während Mirella Hagen und vor allem Larissa Ciulei über teils wuchtige Klangpräsenz verfü­gen und sich gegen Ende zunehmend steigern. Noch nicht ganz ausgereift sind dagegen die Stimmen der beiden soliden Baritone Szymon Chojnacki und Kai Preußker, die mit der Flexibilität und vor allem Klangschönheit ihres Tenorkollegen Youn-Seong Shim nicht mithalten können. Der hat in der dunklen Kirchenszene seinen großen Moment, deutet die Möglichkeiten, ins italienische Tenorfach vorzu­stoßen, an und ist überhaupt die interessanteste Stimme des Abends.

Mit ihm endet das Stück. Doch mit ihm beginnt es zugleich wieder, denn das Leben ist ein großer Kreislauf, aus dem man nicht ausbrechen kann, wie diese einhundert Minuten beweisen.